Episode #004 Spiritualität – warum immer mehr Menschen nach dem Mehr suchen

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„Gedanken zur Menschlichkeit“ ist ein philosophischer Podcast mit Annette Müller, die von Medienprofi Falk S. Al-Omary interviewt wird. Der Podcast möchte bewusst Kontroversen schaffen und neuen Gedanken abseits des Mainstream Raum geben.
Heute sprechen wir über Spiritualität. Annette und Falk diskutieren über die Gründe, dass Spiritualität immer mehr Einzug in die Geschäftswelt hält.

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Hier können Sie diese Podcastfolge nachlesen:

Spiritualität – warum immer mehr Menschen nach dem Mehr suchen

Die Evolution lehrt uns, dass nur der optimal Angepasste in der Natur überlebt. Doch wie angepasst müssen und dürfen wir Menschen in unserem Geist sein, damit Menschlichkeit wieder Einzug hält in Unternehmen und in unser Verhalten? Diskutieren Sie gedanklich mit, wenn die Publizistin und Bewusstseins-Evolutionärin Annette Müller sich im philosophischen Diskurs mit ihren Gesprächspartnern zur Menschlichkeit und zu dringenden Fragen der Zeit äußert.

Annette Müller: Herzlich willkommen zur neuen Podcast-Folge. Heute geht es um Spiritualität – um Spiritualität und die Frage, warum immer mehr Menschen nach dem Mehr suchen.

Falk Al-Omary: Ich stelle immer wieder fest, dass gestandene Unternehmer, Manager und Menschen, die mitten im wirtschaftlichen Leben stehen, plötzlich Aufenthalte im Kloster buchen, Schweigeseminare machen oder Reisen in fernöstliche Länder unternehmen, um dort mit Meistern zu sprechen. Genau das hast du ja auch gemacht. Allerdings hast du das wirklich studiert und intensiv aufgenommen und nicht nur 14 Tage. Aber ich habe schon den Eindruck, dass es eine extrem große Sehnsucht nach Sinn gibt – nach Sinnsuche, nach Spiritualität, nach Mehr. Die Frage ist: Warum ist das so? Was ist denn der Mangel, der uns dahintreibt? Warum reicht uns das Leben hier nicht mehr?

Annette Müller: Ich bin mir sicher, dass uns diese Suche, dass uns diese Sehnsucht in die Wiege gelegt ist. Und dass wir von dieser Suche im Prinzip eigentlich abgelenkt werden oder abgelenkt sind – und zwar durch falsche Zielsetzungen. Wer es geschafft hat, wer sämtlichen Vorgaben der Gesellschaft nachgekommen ist, wer Karriere gemacht hat, wer erreicht hat, was andere Leute erst noch anstreben, der findet sich irgendwann einmal in der Lage, dass er alles hat. Und dann fragt er sich: Was ist hier mein Warum? Und was ist hier mein Wozu? Die Antwort auf diese Frage kann meist im erreichten Ziel nicht gefunden werden. Glücklicherweise leben wir in einer Gesellschaft mit vielen technischen Errungenschaften, die uns andere Informationen zugänglich machen. Das heißt, wir haben Riesenbibliotheken. Wir können Bücher kaufen, die mitunter schon wenige Stunden nach Bestellung geliefert werden. Wir können Fragen in einem Forum stellen und bekommen vielleicht Antworten, die uns aufwecken oder aufrütteln und die sagen, „Probier dies, probier jenes“. Oder wir finden Leute, denen es genauso geht. Wo man vorher vielleicht ganz einsam auf weiter Flur war. Wir haben unzählige Möglichkeiten zum Austausch. Wir können uns mit Unternehmern verbinden, mit anderen Menschen verbinden, über den ganzen Globus hinweg. Das ist fast so etwas wie Telepathie, das Internet. Wir sehen: Ja, es gibt auch andere Menschen, die im Kloster waren. Die mir sagen: „Geh da hin, probier es aus“. Steve Jobs zum Beispiel hat Mark Zuckerberg ein bestimmtes Kloster empfohlen. Der ist schließlich zurückgekommen und hat mit ganz viel Kraft seine Sache in die Welt gebracht. Und umgesetzt. Es ist also nicht von der Hand zu weisen, dass es dort wirklich zu Erkenntnissen kommt, die andere Menschen ebenfalls sehen.

Al-Omary: Jetzt denke ich an die Maslowsche Bedürfnispyramide. Ich sage: Okay, jetzt sind die Grundbedürfnisse befriedigt, ich habe Essen, eine Wohnung, ein soziales Umfeld. Ich habe einen gesellschaftlichen Status, ich habe eine gewisse ökonomische Freiheit, jetzt suche ich nach dem Mehr und wende mich neuem Wissen zu. Dabei endet man nicht selten in der Spiritualität. Ist Spiritualität also etwas Elitäres?

Müller: Es ist schon Luxus. Für mich ist es Luxus, mich zu befreien aus bestimmten gesellschaftlichen Zwängen. Es ist Luxus, mich zu befreien und unter Umständen zu sagen: „Okay, ich nehme mir jetzt ein Jahr für mich und werde reisen, gehe in Klöster oder mache sonst irgendetwas“. Das ist definitiv Luxus. Weil sich das viele überhaupt nicht erlauben können, weil sie Familien zu ernähren haben, weil sie Schulden zurückzahlen müssen. Wer das kann, der kann sich glücklich schätzen, sich das zu leisten.

Al-Omary: In einer harten Wirtschaftswelt hat Spiritualität ja immer auch ein Geschmäckle. Mitarbeiter könnten denken: „Der Chef war immer normal und jetzt biegt er plötzlich in eine ganz falsche Richtung ab. Er geht in die Kirche, stellt sich einen großen Buddha ins Büro und hat die große Erleuchtung. Wo führt das denn hin?“. Das löst ja oft auch Ängste im Umfeld aus, wenn Menschen einen Entwicklungsschritt machen. Wie viel Angst müssen wir vor Spiritualität haben? Wir als Gesellschaft und wir als Menschen?

Müller: Spiritualität hat Werte, die uns ausschließlich bereichern können. Die können uns nicht schaden. Und zwar, weil es um tatsächliche menschliche Werte geht. Es geht um Menschlichkeit. Es geht um Mitgefühl. Es geht um Achtsamkeit. Es geht um Bewusstseinserweiterung. Es geht um Erhöhung der Intelligenz. Es geht um Erhöhung des eigenen Wirkens. Es geht um Erhöhen der Einzelnen, also der Wirkkraft des Einflussbereiches des Einzelnen. Das ist nur gut. Mit Spiritualität meine ich im Prinzip das Gegenteil von Religion und Glauben. Denn alles, was geglaubt wird, ist ja nicht aus der eigenen Erfahrung. Es ist genau das Gegenteil von Wissen. Spiritualität beschäftigt sich mit den eignen Erfahrungen, mit dem tatsächlichen Wissen und mit dem Umsetzen im Alltag. Spiritualität bedeutet nicht, sich zurückzuziehen in eine Höhle und dann für die Gesellschaft nicht mehr vorhanden zu sein. Das ist ein Herausnehmen. Das ist auch ein Seiner-Pflicht-nicht-Nachkommen. Eine wirkliche Spiritualität, wie sie von den alten Meistern gelehrt wird, ist: Erkenne dich selbst, finde deinen inneren Reichtum und bringe diesen in die Welt.

Al-Omary: Jetzt verstehe ich dich so, dass Spiritualität eine Art Selbsterfahrung ist, was ich ja auch mit Meditation, mit Anhäufung von Wissen, mit Selbstreflexion erreichen kann. Ich finde es interessant und gut, dass du Spiritualität von Glauben und von Religion abgrenzt. In bestimmten Kreisen ist es ja sogar gesellschaftlich geächtet, nicht zu glauben. Diese Art der Religion ist eben nicht spirituell. Ich finde, wir müssen noch eine andere Abgrenzung machen, nämlich die von der Spiritualität zur Esoterik, die ja auch wieder nur Glauben ist. Und teilweise auch sehr gefährlich, sehr indoktrinativ. Wie grenzt du das denn ab?

Müller: Der Unterschied ist der gleiche. Esoterik ist etwas Geheimes. Sie ist das Gegenteil von Exoterik. In der Geheimwissenschaft werden eben Techniken gelehrt, die es ermöglichen sollen, zu Kräften zu gelangen, die dem Normalbürger nicht zur Verfügung stehen. Das, was heute als Esoterik gelehrt wird oder in der Welt ist, ist genau das Gegenteil von tatsächlicher Esoterik, wenn man das Wort für sich betrachtet. Hier werden die Begriffe im Prinzip verwechselt.

Al-Omary: Esoterik hat aber ja immer etwas Sektiererisches, etwas Gefährliches – zumindest wird es häufig in diesem Kontext benutzt. Wenn du jetzt als Gelehrte dich abgrenzt von dem Begriff, was ich sinnvoll und richtig finde: Wo sind denn da die Grenzen?

Müller: Die Esoterik spricht viele Menschen an, die im landläufigen Glauben keinen Sinn mehr sehen. Im Prinzip wuchten sie das eine von der einen Schulter einfach nur auf die andere rüber. Der Inhalt ist ein anderer, aber im Prinzip ist es genau das Gleiche.

Al-Omary: Das heißt, die sind am Ende genauso indoktriniert?

Müller: Natürlich.

Al-Omary: Und Spiritualität wäre etwas, das sowohl von Glauben und Glaubenssätzen als auch von gesellschaftlichen Konventionen genauso weit entfernt ist wie von Esoterik? Und es ist eigentlich die höhere Form der Entwicklung, weil Spiritualität bedeutet, sich mit sich selbst zu konfrontieren und Wissen zu erlangen, um eine höhere Bewusstseinsstufe zu erreichen? Das ist ja genau das Gegenteil von dem, was Kirche will, und von dem, was Esoterik will. Weil das ja immer auch eine Art von, ja, Glaubenskorsett ist, von Knechtschaft, von Fremdbestimmung. Verstehe ich das richtig?

Müller: Ja. Genauso sehe ich das auch. Es ist so, dass wir in der Esoterik und im Glauben spirituelle Prinzipien wiederfinden. Es wird sehr viel von diesen spirituellen Lehren genommen und übernommen. Diese werden schließlich als Glaube und als Doktrin dargestellt. Wobei wir ja auch wieder unterscheiden müssen, denn es gibt viele verschiedene Arten von Glauben. Man kann das nicht über einen Kamm scheren. Es gibt so viele Strömungen – sowohl in der Esoterik als auch in der Spiritualität. Wenn wir wirklich in die Tiefe gehen wollen, müssten wir uns einzelne Strömungen anschauen. Das würde hier zu weit führen. Es ist nur wichtig zu wissen, dass jeder, der etwas Spirituelles sucht, alles, was ihm präsentiert wird überprüft, hinterfragt, mit einem kritischen wachen Verstand. Wir sehnen uns nach dem, was wir wirklich sind, wer wir wirklich sind. Wenn wir nicht abgelenkt werden, dann können wir spüren, dass da so viel mehr ist, das auf uns wartet, dass wir noch einen so viel, viel größeren, weiteren Horizont haben, dem wir nachstreben können, den wir erreichen können. Wenn wir die Möglichkeit haben, entsprechende Literatur zu lesen, oder wenn wir anderen Menschen zuhören können, wenn wir Vorträge hören, bei denen es wirklich Antworten auf die brennenden Fragen gibt, dann ist das der Sinn des Lebens, der uns umtreibt. Die Suche nach dem Glück. Die Suche nach dem, was wir wirklich sind. Es es ist wichtig, sich umzuschauen und sich zu fragen: „Wo ist es für mich stimmig? Wir müssen aufpassen, weil es viele Strömungen gibt, die ganz bequem Lösungen präsentieren, die uns tatsächlich nur ablenken und uns in die eine oder andere neue Abhängigkeit bringen. Spiritualität finden wir tatsächlich auch in den verschiedensten Religionen. Und bei den verschiedensten Autoren. In der Philosophie. Jeder einzelne muss eigenverantwortlich schauen und aufpassen, dass er nicht in eine Abhängigkeit gerät, wobei natürlich die Frage ist, ob die eine Abhängigkeit schlimmer ist als die andere. Ich merke, dass die Menschen in der normalen Religion nicht die Zufriedenheit finden, die sie suchen. Dabei wird ganz viel mit Angst gearbeitet.

Al-Omary: Gut, das ist natürlich in den monotheistischen Religionen in der Tat schon so, dass wir eher ein strafendes Gottesbild haben. Vielleicht ist das auch der Punkt, weswegen viele in den Buddhismus gehen. Weil dort das Liebende, das Gesellschaftliche im Vordergrund steht. Du wirst wiedergeboren und hast die Chance, dich immer wieder neu zu bewähren. Wohingegen du halt hier im Fegefeuer landest. Möglicherweise ist das ein Stückweit auch die Sehnsucht. Wenn Menschen auf dieser elitären Ebene sind und sagen: „Ich habe mich weiterentwickelt, ich möchte jetzt spirituell meine Gedanken, meinen Horizont erweitern“, dann gehen viele gleich einen ganz großen Schritt. Sie nähern sich nicht in homöopathischen Dosen und gehen in kleinen Schritten, sondern gleich zum Schweigeseminar ins Kloster. Am besten direkt in Indien. Da ist dann auch ganz viel Abenteuerlust dabei. Ist das auch irgendwo eine Art Getriebensein? Gibt es eine Art Hektik und Versuche, Abkürzungen zu gehen, also in der geistigen Entwicklung?

Müller: Warum nicht? Ich muss doch nicht unbedingt auf einen Berg klettern, wenn da auch eine Gondel ist. Es schreibt mir doch niemand vor, dass ich es mir unbequem machen muss. Wenn ich schnell wohin gelangen kann, warum soll ich dann nicht schnell hingehen? Ich muss doch nicht mit einem Trabant fahren, wenn ich ein schnelles Auto habe. Nur weil es vielleicht gesellschaftskonformer ist. Wenn es sich jemand leisten kann, das volle Programm zu machen, finde ich das super. Er kann dann zurückkommen mit Schätzen, die er mit uns teilt.

Al-Omary: Das Beispiel Trabant und schnelles Auto hinkt ein bisschen. Ich glaube auch nicht, dass der Trabant gesellschaftlich unbedingt große Anerkennung erfährt. Mir geht es eher um die Frage: Kann ich, wenn ich nie Schritt für Schritt gehe, wirklich intellektuell ankommen? Ist das dann nicht einfach der große, große Brocken, den ich gar nicht mehr verarbeiten kann, den ich eben auch nicht mehr teilen kann, weil ich mich vorher nicht genähert habe? Das ist genau so, als wenn Leute nach Bali fliegen, aber noch nie im Schwarzwald waren.

Müller: An dieser Stelle haben wir ein Missverständnis von Spiritualität. Viele denken, man müsse in der Spiritualität etwas Neues lernen. Das stimmt aber nicht. In der Spiritualität muss man das Falsche ablegen – also, das, was uns behindert, das, was uns manipuliert hat, das, was wir falsch glauben über uns, das, was wir als Glaube angenommen hatten. Zum Beispiel die Glaubenssätze „Ich bin ein Sünder“. Das müssen wir ablegen. Das kann lange dauern, das kann aber auch ganz schnell gehen.

Al-Omary: Also, Spiritualität hat immer etwas mit Etwas-loswerden zu tun, wenn ich dich richtig verstehe. Wir haben ja am Anfang gesagt, das ist ein Stückweit Selbsterfahrung und in der Selbsterfahrung, in der Innenschau, in der Reflexion, findet eine Weiterentwicklung statt. Jetzt sagst du: Na ja, es geht darum, alte Dinge abzulegen, um, sage ich mal, ein Stückweit eine Reinheit des Geistes zu erreichen.

Müller: Die Weiterentwicklung ist die Rückentwicklung zum Tatsächlichen. Es gibt eine Lehre im Indischen, die heißt Neti Neti. Die kommt aus dem Vedanta und lehrt dich, alles, was du siehst, infrage zu stellen. Das heißt, ist es dies oder ist es das? Nein, es ist nicht dies, es ist nicht das. Ist das ein Tisch? Es scheint ein Tisch zu sein, aber das ist Holz. Ist das wirklich Holz? Es scheint Holz zu sein, aber es besteht aus Molekülen. Und so weiter und so fort. Das heißt, hier geht man in die Reduktion. Und legt alles ab, was oberflächlich ist und stört. Um dann eben zum Kern der Sache zu kommen. Das ist auch beim Menschen der Fall. Bin ich ein Mann? Bin ich eine Frau? Bin ich nicht noch mehr als nur ein Mann oder eine Frau? Ich bin doch ein Mensch. Bin ich meine Kultur? Und so weiter und so fort. Das geht ganz stark in die Tiefe. Schließlich legt man ab, was einem gesagt wurde, was man gelernt hat.

Al-Omary: Wir haben ja am Anfang die Frage gestellt, warum sich Menschen immer nach mehr sehnen. Diejenigen, die in die Höhle oder ins Kloster gehen, erfahren dort etwas, das sie mitnehmen. Sie versuchen dann, es in ihren Alltag zu transferieren. Das endet ja nicht damit, dass sie sich eine Buddha-Figur in den Garten stellen. Das hat ja auch praktische Auswirkungen auf das Leben. Nur dann hat es ja am Ende auch was mit Selbsterfahrung zu tun. Was kann denn jemand, der sich jetzt auf die Reise nach Spiritualität macht, konkret mitnehmen? Wie viel Veränderung im Alltag findet statt?

Müller: Er kann die Welt verändern. Er kann die Welt beeinflussen. Siehe Mark Zuckerberg und Steve Jobs. Das ist doch klar.

Al-Omary: Wie spirituell waren die beiden denn? Also, ich nehme sie als Tech-Pioniere wahr.

Müller: Wo ist der Unterschied? Warum soll es im Materiellen keine Spiritualität geben? Ja? Wenn wir das alles reduzieren auf den Kern, müssen wir doch sehen, es ist alles aus diesem Kern geschaffen. Und zwar alles.

Al-Omary: Gut, das ist natürlich jetzt ein ganz anderer Blick auf Spiritualität, als der, den wir vorher diskutiert haben. Wenn in allem Spiritualität zu finden ist, dann ist ja die Reise nach Indien oder in andere fernöstliche Länder gar nicht mehr notwendig. Dann kann ich ja theoretisch anfangen, Spiritualität nicht nur in den Alltag zu implementieren, weil ich sie woanders gelernt habe, sondern ich kann sie quasi vor meiner eigenen Haustür, in meinem eigenen Handeln jederzeit erkennen.

Müller: Und genau so sehe ich unsere Zukunft. Das ist eine Bewusstseinsentwicklung. Das ist Bewusstseinsevolution. Dass man eben, um den Kern der Spiritualität zu erleben, eben nicht mehr ins Kloster gehen muss, sondern dass er tatsächlich vor der Haustüre zu finden ist. Dass er etwa bei den Nachbarn ist. Das finden wir doch heute schon. Wir haben doch bereits Menschen in der Nachbarschaft, mit denen wir ganz unglaublich tolle Gespräche führen können. Das ist doch fantastisch. Wir finden sie auch im Internet. Wie viele unglaubliche, wunderbare Menschen habe ich etwa auf Facebook getroffen? Das ist sensationell.

Al-Omary: Ich treffe da auch ganz viele Spinner und Scharlatane.

Müler: Ja. Es gibt einen ganz tollen Spruch, der lautet: „Da, wo es Menschen gibt, gibt es Buddhas und Fliegen“.

Al-Omary: Das verstärkt sich im Internet noch, weil es relativ ungefiltert über den Äther geschickt werden kann. Trotzdem finde ich den Gedanken spannend, dass jeder in der Lage ist, Spiritualität zu erfahren, auch mehr oder weniger in den ganz alltäglichen Dingen. Kann man eine bestimmte Art von spirituellem Denken erlernen?

Müller: Gibt es überhaupt eine bestimmte Art des spirituellen Denkens? Ich glaube, dass zuallererst das Gefühl einer tiefen Frustration da sein muss, um sich solchen Gedanken erst mal zuzuwenden. Und dann, wenn man beschließt, ich möchte es lernen, kann man es lernen. Aber dieser erste Schritt, der ist notwendig. Wenn sich jemand dafür nicht interessiert, dann kommt der Prophet auch nicht zu ihm. Oder dann kommt der Berg nicht zum Propheten.

Al-Omary: Ist dann Spiritualität eine Art Entscheidung? Also, ist es jetzt der Wunsch, ich möchte bestimmte Dinge im Alltag hinterfragen? Ich möchte mehr wissen über mich, über mein Verhalten, über mein Wirken?

Müller: Definitiv.

Al-Omary: Über mein Sein? Und dann wäre das ja eine bewusste Entscheidung, zu sagen, ich will diesen ganzen Spiri-Quatsch gar nicht, wie ihn viele titulieren. Oder, dann muss ich auch bewusst entscheiden, ich möchte nicht nach Indien, nicht nach China gehen und trotzdem das Spirituelle in meinem Alltag kennen. Das heißt, alles beginnt mit der Entscheidung: Ich möchte mehr wissen, ich möchte mehr erfahren. Ist dann nicht – und das ist jetzt eine ketzerische Frage – jede Art von Motivationsseminar und Persönlichkeitsentwicklung auch Spiritualität?

Müller: Ich zum Beispiel sehe in ganz vielen Aussagen von Motivationsseminaren unglaublich viel Spiritualität. Weil die ja mit sehr vielen tiefen Erkenntnissen daherkommen, die den Menschen wirklich auch helfen. Der Mensch ist so gepolt, dass er nur das erkennt, was er schon kennt. Das ganz wichtig zu wissen. Ich kann ja nur das erkennen, was ich in mir schon einmal erlebt habe. Deshalb ist es ganz wunderbar, immer mehr und mehr und mehr möglichst neue Erfahrungen zu machen, weil das den Horizont und das Bewusstsein erweitert.

Al-Omary: Also könnte jeder Akt der Selbstoptimierung auch schon ein spiritueller Ansatz sein?

Müllee: Ja. So sehe ich das. Ja.

Al-Omary: Spannend. Wir machen ja auch eine Folge zum Thema „Wie viel Motivation verträgt der Mensch?“ Gerade in einem Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Verhältnis versucht ja jeder, den anderen zu motivieren. Wenn Spiritualität so einfach ist, ist das ja ein unglaubliches Potenzial, ein völlig ungeborgener Schatz, an dem jeder wachsen könnte – in welche Richtung und zu wessen Nutzen auch immer.

Müller: Ja. Aber wenn mir das jetzt aufoktroyiert würde –­ beispielsweise durch meine Eltern – so nach dem Motto: „Jetzt setz dich da mal hin und meditiere“ oder „Mache jetzt mal Yoga“, dann würde ich auf die Barrikaden gehen, das würde ich nicht tun. Es ist schon eine gewisse Reife in dem einzelnen Menschen notwendig, die ihn überhaupt dazu treibt, sich tatsächlich echt dafür zu interessieren.

Al-Omary: Ich erlebe das in der Tat. Früher waren die Kinder beim Geigenunterricht und beim Tennis und hatten Terminkalender wie Erwachsene. Heute müssen sie zum Yoga und meditieren üben. Auch die kriegen ja etwas oktroyiert.

Müller: Es ist natürlich immer gut, wenn man selbst als Beispiel dient. Man muss Freunden oder der Familie aber trotzdem die Wahl lassen, ihren eigenen Weg zu gehen. Dann müssen sich beispielsweise Kinder auch nicht auflehnen. Alles, was mit Zwang geschieht, das trifft auf Gegenwehr.

Al-Omary: Spiritualität hat ja viel mit Befreiung zu tun.

Müller: Ganz viel mit Befreiung. Spiritualität ist im Prinzip frei. Und jeder, der nicht will, dass ich mich befreie, der wird mir einen Glauben aufzwingen.

Al-Omary: Hilft Spiritualität, das Sich-auf-den-Weg-Machen hin zu dieser Selbsterfahrung? Schult das auch das Denken?

Müller: Da kommen wir natürlich wieder an Grenzen, weil es ja immer drauf ankommt, wer sich auf den Weg macht. Es kommt ja immer drauf an, wie die ganzen Informationen bei mir ankommen und wie ich sie verarbeite. Was will ich denn wirklich? Will ich wirklich Befreiung? Oder will ich eben wirklich nur einen anderen bequemen Glauben annehmen? Das ist schon zu differenzieren. Und ich denke mal, da können wir keinen Konsens finden, weil es wirklich eine individuelle Geschichte ist.

Al-Omary: Also, das heißt, es gibt Spiritualität in der Komfortzone?

Müller: Selbstverständlich gibt es die. Und das kann komfortabel sein kann. Ich höre immer wieder Menschen, die zitieren andere Menschen, die das gesagt oder das geschrieben haben. Ich denke mir dann immer: „Mh, schön. Und wie geht es dir in deinem Alltag?“. Und dann sehe ich genau, was das bewirkt.

Al-Omary: Das heißt, Spiritualität soll zum Denken ermuntern, aber bei vielen gelingt das nur bedingt und es ist viel mehr als das Nachplappern.

Müller: Sicher. Definitiv.

Al-Omary: Freiheit ist eben immer auch unbequem. Das ist das, was ich für mich jetzt auch ein Stückweit mitnehme.

Müller: Freiheit bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Freiheit bedeutet, sich zu disziplinieren. Freiheit bedeutet, immer Entscheidungen zu treffen und auch Entscheidungen treffen zu müssen. Es ist also nicht jemand da, der mir eine Entscheidung aufdrängt oder der mir sogar die Entscheidung abnimmt.

Al-Omary: Spannend. Das sind ganz neue Perspektiven auf Spiritualität, die ich so noch nicht hatte. Ich bin ein sehr freiheitsliebender Mensch, ich bin aus Leidenschaft Unternehmer und finde dieses ständige Nachdenken, dieses ständige Reflektieren, dieses ständige Optimieren einerseits total anstrengend. Wenn es aber diesen spirituellen Aspekt eben auch bekommt, dieses „Ich möchte etwas bewirken“ im Sinne einer Freiheit des Geistes oder auch einer gesellschaftlichen Befreiung, bekommt es noch mal eine andere Konnotation. Das wäre dann ja schon der erste Schritt hin zu einem spirituellen allumfassenden Handeln, auch in der Wirtschaftswelt, die auch der gesamten Wirtschaft ein Stückweit guttäte.

Müller: Und es wird ja immer mehr. Es werden ja immer mehr Unternehmer, die genau dort etwas suchen, was sie hier nicht mehr finden. Da sind schon wunderbare Sachen geschehen. Firmen werden immer offener dafür.

Al-Omary: Die Frage ist ja: „Warum suchen die nach Mehr?“ Weil es eben inzwischen auch einen Aufbruch gibt, den Wunsch nach Selbstbestimmung, den Wunsch nach Befreiung aber auch den Wunsch, etwas Sinnvolles zu tun und Sinn zu stiften in den Produkten und in der Gemeinschaft.

Müller: Dieser Wunsch besteht ja nicht nur in den Leadern. Der besteht ja nicht nur in den Firmeninhabern, bei den Unternehmern, der besteht ganz genau so auch bei den Mitarbeitern. Viele Mitarbeiter sind total frustriert, weil sie irgendeine Tätigkeit machen, die sie für total überflüssig und sinnlos halten, im weiteren Sinne natürlich, im Sinne unserer Gesellschaft, im Sinne unseres Lebens. Die denken sich, „Na ja, warum soll ich denn hier jetzt noch soundso viele Jahre auf diesem Platz sitzen und jeden Tag das Gleiche machen? Ich habe nichts davon. Wer hat was davon? Im Prinzip hat die Gesellschaft auch nichts davon. Wie soll ich da rauskommen?“.

Al-Omary: Sind wir denn auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft?

Müller: Wenn du mich fragst, dann muss ich natürlich sagen, wir sind auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, weil ich mich ja damit auseinandersetze. Das ist ja mein Thema. Bewusstseins-Evolution, das heißt also wirklich die Erweiterung und Evolution und Entwicklung des Bewusstseins ist unmöglich ohne Spiritualität. Weil Spiritualität uns ja zum Kern der Dinge führt. Wenn man sie genau betrachtet. Wenn man sie natürlich mit Vorurteilen betrachtet, dann bekommt sie einen esoterischen Anstrich. Was es aber nicht ist. Sie bekommt auch einen religiösen Anstrich. Was es aber nicht ist. Warum ist das so? Weil wir Teile der Spiritualität in der Esoterik und in allen Religionen wiederfinden. Warum finden wir die da? Weil es nun mal einen Kern gibt, der wahrhaftig ist. Und der sinnhaft ist. Diese ganze Verzweiflung, die wir überall haben, diese ganzen Fragen, die sich die Menschen stellen, junge Menschen, ältere Menschen, in sämtlichen Gesellschaftsschichten – es wird nicht zu verhindern sein, dass wir im kollektiven Bewusstsein eine Entwicklung machen. Und das ist meiner Meinung nach spirituell. Jemand anders würde das anders bezeichnen.

Al-Omary: Ich würde sagen, es ist wissenschaftlich, es ist technisch, es ist kulturevolutionär, das wären jetzt eher meine Begriffe. Aber ich habe jetzt ja gelernt, dass man auch diese Dinge spirituell betrachten kann und sich da vielleicht dieser Widerspruch auch auflöst.

Müller: Wenn man jetzt nach CERN schaut, wo nach dem Gottesteilchen gesucht wird, dann denkt der nicht-spirituelle Mensch: „Was? Wie viele Milliarden werden dafür ausgegeben? Wie bitte? Wie viel Kilometer ist dieser Tunnel lang? Das machen die, um ein Gottesteilchen zu finden? Das sind Wissenschaftler? Die gehören doch alle in die Klapse.“ Das hätte man vor 50 Jahren vielleicht noch gesagt. Jetzt stellen wir uns aber mal vor, was wir in 50 Jahren darüber denken. Es ist alles so relativ. Man kann das nicht festmachen, man kann das nicht festschrauben.

Al-Omary: Ja, in der Tat. Und ich denke, wir haben ein paar Widersprüche auflösen können. Ich bin für den Hinweis dankbar, dass in jedem, in allem, was man so tut und macht, Spiritualität stecken kann. Das ist für mich eine völlig neue Definition des Begriffes. Weil ich das in der Tat immer auf der Ebene des Glaubens hatte. Das hast du jetzt ja sehr klar auch abgegrenzt. Das war für mich sehr erhellend.

Müller: Wunderbar, das freut mich sehr.

Eine spannende Folge geht heute wieder zu Ende. In zwei Wochen hören wir uns wieder. Schalten Sie gerne dazu und wenn Sie nicht daran denken wollen, sondern automatisch benachrichtigt werden möchten, abonnieren Sie gerne die Show von Annette Müller. Ansonsten diskutieren Sie gern mit ihr auf der Facebook-Gruppe über die heutige und die vorherigen Folgen. Die Links zu allen Bereichen, die Sie benötigen, finden Sie in den Shownotes. Bis in zwei Wochen!