Episode #015 Kultur & Identität: Woher nehmen wir unsere kulturelle Überheblichkeit?

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Arroganz und Überheblichkeit scheinen aus unserer Gesellschaft nicht mehr wegzudiskutieren. Wie kommt diese Einstellung zu stande? Haben wir das Recht zu dieser Haltung und was können wir aktiv verändern?
Darüber philosophiert Annette Müller mit Falk S. Al Omary.
„Gedanken zur Menschlichkeit“ ist ein philosophischer Podcast mit Annette Müller, die von Medienprofi Falk S. Al-Omary interviewt wird. Der Podcast möchte bewusst Kontroversen schaffen und neuen Gedanken abseits des Mainstream Raum geben.

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Hier können Sie diese Podcastfolge nachlesen:

Annette Müller: Herzlich Willkommen zu unserer heutigen Podcast-Folge. Hier zu Gast: Falk Al-Omary. Ich freue mich sehr über unser heutiges Thema, und zwar: „Woher nehmen wir unsere kulturelle Überheblichkeit?“ Wir glauben ja im Allgemeinen, dass unsere Lebensweise die richtige ist, und versuchen, das eben anderen überzustülpen. Besser gesagt: Wir sehen sehr oft auf andere Lebensformen herab und meinen, wir seien irgendwie etwas Besseres. Wobei ich mich da ausnehmen möchte, weil ich durch meine zahlreichen Auslandsaufenthalte schon auch einen großen Respekt anderen Kulturformen gegenüber habe, diese sehr schätze und viel gewonnen habe daraus, dass ich eben andere Erfahrungen gemacht habe. Falk, wie sieht das bei dir aus?

Falk Al-Omary: Ich war natürlich auch viel im Ausland; habe relativ viel gesehen und habe mich auch entschieden, ehrlich gesagt, gar nicht mehr so viel reisen zu wollen. Ich habe die Nase voll. Ich habe eigentlich schon mehr gesehen, als ich wollte. Ich war in Kriegsgebieten, ich war in Afrika. Ich habe Gewalt erlebt in anderen Ländern. Ich habe Schmutz erlebt, ich habe Krankheit erlebt. Also ich fahre lieber an die Ostsee als irgendwo ins Ausland. Das muss ich jetzt gestehen, weil ich einfach die Nase voll davon habe. Was mich aber stört auf einer eher politischen Ebene ist in der Tat, was du auch gesagt hast: dass wir auf andere Kulturen mit einer gewissen Arroganz herabschauen und eben glauben, dass unsere Lebensform die richtige ist. Wir versuchen, unsere Werte, unsere Demokratie, unsere Staatsform, unsere kulturellen Eigenheiten zu exportieren. Ein Beispiel wäre der arabische Frühling, wo man eben versucht hat, diese Länder zu demokratisieren. Jetzt habe ich selbst arabische Wurzeln. Und ich sage mal ganz lapidar: So eine arabische Kultur ist nicht zwingend so zu demokratisieren, wie wir uns das vielleicht hier vorstellen. Das ist nicht in deren Genen. So, und genauso wenig können wir irgendwo sagen, Amazonasvölker und Ureinwohner sind rückständig. Genauso wenig können wir behaupten, dass, weil Asiaten Tiere anders behandeln, als wir das hier tun, diese eine andere Lebensweise haben, die wir zu verachten haben. Wenn ich unsere Massentierhaltung angucke, dann ist die moralische Überlegenheit eben auch nicht immer so ganz eindeutig. Also die Frage ist in der Tat, woher nehmen wir diese Arroganz, unsere Lebensweise exportieren zu wollen, sie zum Maßstab zu erklären und andere Länder zu missionieren – bis hin zu Kriegen, in denen wir eben sagen: „Du musst jetzt gefälligst so leben, du musst dich anpassen.“ Wir unterstützen Kriegsparteien in Drittweltländern. Wobei allein der Begriff „Dritte Welt“ ja auch schon wieder eine Arroganz und Überheblichkeit ist. Ja, und das sehe ich mit einem gewissen Schamgefühl, mit einer gewissen Abscheu irgendwo auch, weil ich mich in der Tat frage: Woher nehmen wir diese Arroganz, bei all dem, was im eigenen Land ja auch schief läuft?

Müller: Schweres, sehr, sehr schweres Thema, weil ich in ganz vielen Dingen gar nicht deiner Meinung bin. Also ich bin der Meinung, dass wir einzelne Personen nicht diese Arroganz mitbringen, sondern dass wir erst einmal schauen müssen: Okay, wo ist denn meine persönliche Identifikation hier im Kollektiv mit meinem Land, mit meiner Kultur? Wie weit ist meine Identifikation? Wie weit reicht die? Reicht die nur über mein Dorf? Reicht die nur über meine Stadt? Reicht die bis zur Gemeinde? Reicht die über die Grenzen hinaus? Bezieht das Europa mit ein? Ja, wir haben einen riesigen Unterschied zwischen Frankreich und zum Beispiel Ungarn. Diese zwei Länder kann man eigentlich gar nicht mehr miteinander vergleichen. Deutschland hängt dazwischen, ist auch ganz anders. Süddeutschland ist ganz anders als Norddeutschland. Die Bayern sind überheblich den Preußen gegenüber. Die Preußen sind überheblich den Bayern gegenüber. Ich finde, diese Überheblichkeit und zu denken, wir sind das A und O und das viel Bessere, finden wir im Prinzip überall. Ich glaube, das ist sehr menschlich. Und da sind wir wieder bei den Gedanken zur Menschlichkeit. Überheblichkeit ist einfach menschlich im Sinne von falscher Identifikation. Das heißt, ich identifiziere mich über meinen Status. Und da, glaube ich, hakt es, wenn wir uns auch im Kollektiv an einem Status orientieren. Und dieser Export der Demokratie – meiner Meinung nach leben wir nicht in einer tatsächlichen Demokratie. Also da haben wir uns, glaube ich, schon einmal drüber unterhalten und waren auch nicht einer Meinung. Aber wenn wir jetzt zum Beispiel sehen, was uns im Einzelnen aufgezwungen wird, was du auch am eigenen Leib verspürst und was ich am eigenen Leib verspüre, was einfach an Doktrin uns übergestülpt wird, dann geben wir das ja auch weiter. Das ist ungefähr so wie der Radfahrer: Von oben wird er getriezt und nach unten tritt er weiter. Das lernen wir ja auch. Wir lernen diese Art Überheblichkeit. Und wenn wir jetzt zum Beispiel gelehrt und gelernt bekommen, dass eine andere Lebensform unter unserer Lebensform ist, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass es sehr viele Menschen gibt, die das sehr gerne annehmen, weil sie sich ja dann auch als etwas Besseres fühlen. Und dann auch wieder ein Zusammenhalt entsteht dadurch, dass man ein gemeinsames Feindbild hat. Und jetzt, dass der Einzelne von uns, dass mein Kollege, dein Kollege oder eben auch der Postbote oder vielleicht der Altenpfleger oder sowas eine Demokratie exportieren möchte in einem anderen Land, das stimmt auch wieder nicht. Denn das interessiert den überhaupt nicht. Der möchte gut leben. Wen das wieder interessiert, sind diejenigen, die lenken. Und deshalb bin ich da nicht jetzt deiner Meinung, Falk.

Al-Omary: Ja, das sind ja verschiedene Themen. Also selbstverständlich brauchen wir eine Art kulturelle Identität. Also eine Nation, wir sind Deutschland, wir sind Europäer. Wenn ich sage, ich bin Deutscher, habe ich schon mal eine andere Identität, als wenn ich sage, ich bin Europäer. Ich könnte auch sagen, ich bin Weltbürger. Je nachdem, wie ich meine eigene Rolle und Identität definiere, komme ich nochmal zu anderen Wertmaßstäben. Aber natürlich braucht jedes Individuum irgendwo einen Halt. So, und natürlich hält jeder seine Lebensweise aufgrund der gemachten Erfahrungen für normal. Ich habe eben nicht im Amazonas gelebt oder mit Massai in Afrika oder in Indien, sondern ich lebe halt eben hier. Und natürlich muss ich mich an die Maßstäbe, die hier gelten, irgendwo anpassen. Natürlich prägen mich diese Maßstäbe, natürlich machen diese Maßstäbe etwas mit mir, beeinflussen meine Haltung. Ich konsumiere hier Medien, ich lebe in einer Gemeinschaft. Das prägt mich natürlich und das ist eben meine Identität. Und dass der Siegerländer – ich komme aus dem Siegerland – oder der Münchner noch einmal eine andere Identität hat als der Norddeutsche. Oder nehmen wir das Beispiel Köln, die haben natürlich eine ganz eigene Identität, die haben ja sogar das Kölsche Grundgesetz, die sind natürlich viel offener und wenn die in eine Kneipe gehen, dann wirst du sofort gut Freund. Das ist für einen Hamburger oder für einen Siegerländer etwas befremdlich. Also ich kann mir durchaus vorstellen, dass ein Kölner und ein Siegerländer weiter voneinander entfernt sind als, um dein Beispiel zu nehmen, ein Franzose und ein Ungar. Wenn ich aber anfange, mich als Europäer zu definieren, habe ich natürlich, wie gesagt, andere Maßstäbe. Gleichwohl haben wir natürlich schon den Drang, unseren Maßstab an andere anzulegen. Also wenn ich in Spanien bin, dann rege ich mich zum Beispiel darüber auf, dass spanische Frauen unwahrscheinlich laut reden. Das ist immer ein Geschrei, wenn du da in einem Restaurant bist, das ist fürchterlich. Oder das Empfinden von Sauberkeit ist in anderen Ländern einfach anders. Und natürlich beschweren wir uns, nehmen wir das ganz banale Beispiel im Urlaub, über bestimmte Dinge, die nicht zu unserer Kultur passen. Und ich rede jetzt nicht davon, dass in Thailand das Wiener Schnitzel am Tisch zu sein hat. Ich glaube, das haben wir ein Stückweit auch als Deutsche überwunden, und da leben noch mehr Vorurteile, als das die Realität ist. Gleichwohl ist es eben so, dass wir einfach messen: Was ist sauber, was ist schmutzig? Was ist gut, was ist schlecht? Was ist Service, was ist kein Service? Welche Tiere darf ich essen, was darf ich nicht essen? So, und da exportieren wir natürlich schon Kulturen und stellen Ansprüche an andere. Und in dem Moment finde ich schon, dass wir eine gewisse kulturelle Arroganz haben, weil wir Erwartungshorizonte formulieren, die andere dann zu erfüllen haben. Beispiel Urlaub. Oder umgekehrt, jetzt kommen zu uns Fremde, wir haben Migration, wir haben Flüchtlinge, wir haben Asylanten. Wir haben aber auch Migranten, die hier seit vielen Jahren leben. Und wir erwarten von denen, ich sage auch, zu Recht, aber mit allen Problemen behaftet, eine Integration nach dem Motto: Lebt gefälligst so, wie wir das hier von euch erwarten. So, und da frage ich mich schon: Ist das eine Arroganz? Steht uns das eigentlich zu, das zu fordern? Und da hätte ich im Grunde auch gerne viel von dir mal gehört. Du bist ja viel in Indien unterwegs. Wie nimmst du das wahr? Indien ist ja richtig weit weg. Und das meine ich jetzt nicht nur geographisch und räumlich, sondern das meine ich objektiv von der kulturellen Identität her, bezogen auf Umgang mit Armut, das Kastensystem, die dortige Demokratie, die Religionsauseinandersetzung. Das ist ja, also ich will mal sagen, so ziemlich das radikalst Andere im Vergleich zu Deutschland, als man sich das vorstellen kann. Wie nimmst du das denn dort wahr und wie gehst du damit um? Du warst ja einige Wochen auch in Indien und bist jedes Jahr auch einige Wochen in Indien. Wie ist da deine Perspektive?

Müller: Also als allererstes ist es so, dass mir Indien sehr viel gebracht hat. Ich habe eine lange Zeit meiner Jugend dort verbracht und habe durch das, was du eben angesprochen hast, durch eben den vielen Schmutz dort, durch die mangelnde Hygiene, durch die große Armut, durch das, was nicht so am Schnürchen läuft wie bei uns, durch dieses komplett Anderssein zu schätzen gelernt, wie wunderbar es ist, wenn man hier Dinge wirklich in einer Struktur hat, die dann eben auch funktionieren, ohne darüber nachdenken zu müssen: Fährt der Zug überhaupt? Oder kommt der Bus an? Oder hat der Bus auch wirklich vier Räder und nicht nur drei? Also das ist schon ganz etwas anderes. Es ist wirklich wie ein anderer Planet. Ich habe zu schätzen gelernt, was es bedeutet, sauberes Wasser zu haben, dass Wasser aus dem Wasserhahn kommt, dass man das nicht irgendwo am Brunnen meilenweit schleppen muss, um sich dann mit verseuchtem Wasser waschen zu müssen und das Wasser erst abzukochen, bevor man es trinken kann. Also das sind alles solche Sachen, die mich sehr stark geprägt haben und mir geholfen haben, das, was ich habe, auch zu respektieren und zu achten. Allerdings ist mir immer wichtig, mir ganz persönlich, mich an ein Land anzupassen, in dem ich auch bin. Also das gebietet die Höflichkeit. Und das gebietet auch mein Respekt. Ich bin dort Gast, ich werde gut behandelt und deshalb behandle ich auch andere gut. Also ich kann jetzt diese Überheblichkeit, dass ich mich oder unsere Kultur als etwas Besseres empfinde, nicht so sehen. Sondern ich habe sogar im Gegenteil das Gefühl, dass eben gerade in Indien dort diese vielen Überlieferungen und diese unglaubliche architektonische Leistung, die dieses Land eben auch vollbringt, und dieses riesige Land zusammenzuhalten, obwohl dort 450 komplett verschiedene Sprachen gesprochen werden, ist es trotzdem eine unglaubliche Leistung. Und wenn wir auch nur annähernd solche chaotischen Zustände hier hätten, würden wir so verwöhnt, wie wir hier sind, vollkommen versagen. Wir könnten damit gar nicht umgehen. Und insofern bin ich da sehr, sehr respektvoll dem gegenüber. Wobei ich aber auch aufgreifen möchte, was du gesagt hast: Ich bin Gast in einem anderen Land und passe mich an. Und andere Menschen kommen hierher, sind Gast hier und erwarten aber, dass unsere Kultur sich dieser Kultur anpasst. Das finde ich etwas, was irgendwo nicht geht. Und da sehe ich eigentlich nicht so sehr, dass die Überheblichkeit auf unserer Seite ist, sondern dass eine Überheblichkeit auch in anderen Ländern existiert, die glauben, dass deren Kultur über unserer steht. Und da sind wir wieder bei diesem Thema: Wer sich für etwas Besseres hält und andere für etwas weniger Gutes hält, der sät dann eben auch Konflikte.

Al-Omary: Ja, das ist ohne Frage so. Und ich meine, dass wir natürlich zu Recht von Menschen, die hier als Migranten herkommen, erwarten, dass sie sich unserer Kultur anpassen, wobei ich da gar nicht mal Kultur, sondern eher Lebensweise sagen würde, ist ja auch nachvollziehbar. Möglicherweise brauchen wir auch eine gewisse Homogenität in einer Gesellschaft, was eben gleiche Werte angeht. Jetzt nehmen wir das Bild der Frau, wir nehmen Meinungsbildungsprozesse, wir nehmen Verständnis von Meinungsfreiheit. Also das, was so im Grundgesetz auch steht: Menschenwürde und all diese Dinge. Natürlich braucht eine Gesellschaft eine bestimmte Identität, um das Wort nochmal zu nutzen, aber eben auch eine kulturelle Einheit, die aber eben nicht daraus sich definieren darf, anderen überlegen zu sein. Sondern die schlicht und einfach nur definiert: Hier ist das eben so, auf diesen Leitlinien haben wir uns hier in unserem Land, in unserer Nation committed. Und die gelten eben hier. So, das sind dann ungeschriebene Gesetze, die wir dann gerne Kultur nennen. Und da kann man natürlich eine Anpassung erwarten. Und das ist ja auch so, wenn du sagst, du bist im Ausland, dann passt du dich natürlich diesen Gegebenheiten an. Auf der anderen Seite hatte ich eben auch den Gedanken: Na ja, dann dürfte ich ja nur upgraden und nicht downgraden. Also wenn du jetzt nach Indien fährst, dann sind die Standards eben nun mal keine deutschen, das heißt, du kannst diese Erwartungen gar nicht haben. Du fühlst dich als Gast willkommen auf dem Level, das nun mal eben dort herrscht. Und das ist natürlich etwas, wo ich mich anpassen muss, weil es eben, es ist halt anders, es ist im Sinne unserer Qualitätsansprüche schlechter in Anführungsstrichen. Es geht aber nun mal nicht besser, es ist dort halt so. Das heißt, du passt dich zwangsweise an. Auf der anderen Seite müsste ich ja mit meinem Gedanken, ich fahre nur an die Ostsee, weil ich eben einen gewissen Service haben will, dann eben sagen, ich kann nur nach oben upgraden sozusagen. Ich kann also nur in Nationen fahren, wo der Service noch besser ist als bei uns. Das wäre dann vielleicht Norwegen oder die Schweiz, wobei da auch eher die Preise höher sind und weniger das Anspruchsdenken und die Qualität. Also eine Anpassung an Realitäten, das will ich damit sagen, ist etwas anderes als eine Anpassung an Lebensweisen. Denn natürlich muss ich mit dem leben, was mir geboten wird. Ich kann in Indien nicht erwarten, dass es so sauber ist wie hier. Wenn ich aber in Indien in einem Fünf-Sterne-Hotel bin, kann ich das natürlich vergleichen mit einem Fünf-Sterne-Hotel hier oder in der Schweiz oder in den USA, weil Fünf Sterne nun mal international definiert sind mehr oder weniger.

Müller: Ja, obwohl ich dir da sagen muss, dass das nicht stimmt. Ja, also da würdest du dann auch enttäuscht. Das hat nicht den gleichen Standard. Das hat nur fünf Sterne, mehr nicht. So ist es. Da sind fünf Sterne draußen. Das ist alles.

Al-Omary: Aber erzähl das ruhig mal ein bisschen. Ich sage mal, also ich war noch nicht in Indien. Ich finde das eben auch interessant.

Müller: Also was Indien ausmacht, ist: Es ist unglaublich, wie wunderschön und wie herzlich und wie menschlich dort die Menschen sind. Und wie sehr du als Mensch dich geliebt fühlen kannst und respektiert fühlen kannst. Es ist für viele, die das erste Mal nach Indien kommen, ganz extrem: Du schaust jemanden an, das heißt, sie schauen dich dort auch tatsächlich an, diese Menschen schauen dir in die Augen, was ja in verschiedenen Ländern gar nicht mehr der Fall ist, was ja auch schon gesetzlich verboten wird. Zum Beispiel in England ist es nach zwanzig Sekunden schon – wie nennt man das?

Al-Omary: Sexuelle Belästigung?

Müller: Sexuelle Belästigung, richtig. Ja, genau. Zwanzig Sekunden sind, glaube ich, noch viel zu lange. Zwanzig Sekunden ist ja schon fast eine halbe Minute. Also dort hast du das und du hast eben auch dieses unglaubliche gelöste Lächeln. Und ein Lächeln und eine Zuwendung und ein Gesehen werden ist einfach für einen Menschen wohltuend. Ja, das ist ganz wichtig. Und das ist etwas, was eben Menschen, die noch nie dort gewesen sind, dann aus dem kalten Westen kommen, also aus diesem nüchternen Land, zum Beispiel Deutschland, schon fast schockierend. Weil das eben so unbekannt ist. Und das ist zum Beispiel etwas, was den Charme ausmacht. Und dann hast du natürlich dann auch noch alte Weisheiten, die dir begegnen. Du hast sehr, sehr viele Gauner, die unterwegs sind. Da musst du natürlich lernen, was ist echt, was ist unecht. Das Land bringt dich einfach zu dir selbst. Das heißt, also mit so einer Anspruchshaltung, du willst Service haben oder sowas, also ich glaube, da würde dann jemandem nicht nur ein Zahn gezogen, sondern würde das ganze Gebiss fehlen anschließend, wenn der dann aus Indien zurückkäme. Natürlich gibt es dort Multimillionäre, die eben sich wirklich noch so viel mehr leisten können, als wir uns überhaupt vorstellen können. Aber ist diese Lebensweise, wie sie die dann führen, etwas, wo wir uns wohlfühlen würden? Da würde ich nun wieder sagen: nein. Denn wenn ich mir überlege, du hast eben dieses viele, viele Geld, das du mitten in den Slums, in Bombay, was weiß ich, 45 Stockwerke bauen kannst, die du dann auch bewohnst. Und davon sind jetzt zum Beispiel acht Stockwerke nur deine Garage für die, was weiß ich, vierhundert Autos, die du hast. Du bist nur eine Person mit deinen vielen Bediensteten zum Beispiel. Und dann schaust du aus dem Fenster und dann siehst du Slums. Das Fenster kannst du nicht aufmachen, weil dann hast du nur Smog, der reinkommt. Also es ist ein Land der Superlative, der Superlative der Millionen, des Reichtums und eben auch der Superlative der Menschen, die auf der Straße geboren werden, noch ohne überhaupt einen Pappdeckel zu haben, mit dem sie sich zudecken können im Monsun, und auf der Straße auch wieder sterben. Und dieser unglaubliche, ich würde das jetzt nicht Zwiespalt nennen, aber diese Extreme, die zeigen dir ja schon das Leben an sich. Wo kannst du hinkommen, was den Reichtum betrifft? Und wo kannst du auch sein, was die Armut betrifft? Und dazwischen spielt sich ja alles ab in unserem Leben. Die Klaviatur sämtlicher Lebensformen ist dort. Und das zu erleben und zu erfahren und nicht irgendwo zu lesen, sondern auch wirklich mitzumachen, das ist schon etwas, was mir jetzt zumindest den Kopf sehr zurechtgerückt hat und mich immer begleitet und mich auch immer zurückholt, wenn ich hier jetzt zum Beispiel irgendeine Veranlassung habe, mich zu beklagen oder zu beschweren über irgendwas.

Al-Omary: Es ist ja eindrucksvoll, wie du das beschreibst. Und dann setzt aber ja gleich der Reflex ein bei mir – und ich kann mir vorstellen, dass es dem einen oder anderen Zuhörer ähnlich geht – wo ich dann sage: Aber wie kann eine Nation so etwas zulassen, dass Menschen auf der Straße geboren werden, auf der Straße leben und auf der Straße sterben? Wie kann man es zulassen, dass diese bittere Armut in unmittelbarer Nachbarschaft zu diesem unendlichen Reichtum ist? Und dann würde man ja sofort Demokratiegesellschafts- und Verteilungsdebatten führen. Da kann man ja zweierlei Meinung sein. Ich bin jetzt sehr kapitalistisch unterwegs und sage: Na ja, jeder bekommt, was ihm zusteht, und ich kann weder den Reichtum noch die Armut verurteilen. Das ist dann eben so. Jeder hat die Chance, sich eben auch seinen 45-Etagen-Tower zu bauen. Und wenn er die nicht hat, dann hat er eben Pech gehabt. Also ich kann das sozial oder gesellschaftlich gerecht finden. Viele werden das genau andersherum finden und sagen: Um Gottes Willen, das darf so nicht sein. Gut, dass wir das hier ausgleichen und zumindest halbwegs nivellieren. Und dann reden wir darüber, dass unsere Armen ja auch so fürchterlich arm sind. Aber unsere Armen sind ja in Relation zu einem Inder dann ja schon wieder brutal reich mit dem, was ihnen hier alles geboten wird, mit Miete und was alles in Hartz 4 und in Sozialtransfers enthalten ist. Und dann geht ja diese moralische Diskussion schon wieder los. Wo wir wieder sagen, also das, womit ich eingestiegen bin: Wie kann man das nur zulassen, diese Armut? Und schon bin ich ja in einer Diskussion, wo ich wieder Wertmaßstäbe anlege, die möglicherweise auf Indien und die dortigen Menschen überhaupt gar nicht anzulegen sind.

Müller: Ja, das ist so. Das sehe ich genauso wie du jetzt in diesem Moment gerade. Es ist nur ein bisschen anders. Die Regionen sind ja auch anders dort. Also man kann da sehr viel mit Religion auch erklären. Es gibt dort drüben das Gesetz des Karmas. Das heiß, wenn dort jemand arm zur Welt kommt, ist das sein Karma. Wer reich zur Welt kommt, der hat halt eben ein gutes Karma. Was aber auch wieder in sehr vielen philosophischen Geschichten dann relativiert wird: Ist ein gutes Karma tatsächlich Reichtum? Und ist eine Armut tatsächlich ein schlechtes Karma? Also das ist schon so ein bisschen dort auch gang und gäbe, dass eben eine Armut nicht in dieser Art und Weise bekämpft wird, um es mal so zu sagen, wie wir das hier tun.

Al-Omary: Ja, du hast das Stichwort Religion genannt und wir können das auch Philosophie oder Ethik nennen. Das ist ja genau der Punkt, der uns auch prägt. Also genau das gehört ja zu unserer kulturellen Identität. Wenn wir hier vom christlich-jüdischen Abendland sprechen, dann meinen wir damit ja etwas. Oder wenn wir vom Hellenismus sprechen, der uns geprägt hat in Westeuropa, dann sind das natürlich Begriffe, die aus einer Tradition heraus, aus einer Geschichte heraus, aus gemeinsamen Erfahrungen heraus unseren Lebensstil geprägt und entwickelt haben, und wo uns Wertmaßstäbe aus der Religion, aus der Philosophie und aus gemachten, ja teilweise auch sehr kriegerischen und blutigen Erfahrungen zu dem gemacht haben, was wir sind. Und genau aus diesem Thema – Religion und Philosophie – heraus, entstehen ja viele Konflikte. Dass die Chinesen sehr kollektivistisch sind und arbeitsam sind oder auch Südkorea mit einer ganz anderen Kultur. Die können natürlich anders wirtschaften. Sie definieren Erfolg anders. Sie definieren ihre Identität anders. Sie definieren vor allen Dingen Kollektiv und Individualität völlig anders. Und sind natürlich dadurch viel handlungsfähiger, weil sie auch die Begriffe Freiheit und andere Dinge ganz anders definieren. Das ist aber ja erstmal relativ normal. Und trotzdem neigen wir dazu, unsere Lebensweise zu exportieren. Das tun die Chinesen mit ihrer neuen Seidenstraße und mit anderen Völkern im Grunde ja auch. Also jede Nation strebt ja nicht nur nach ökonomischem Wachstum und nach gesellschaftlicher Prosperität, sondern es ist immer auch eine Auseinandersetzung um Lebensweisen. Wenn der Chinese etwas kopiert und ein Patent stiehlt, dann sagt er: Das ist gut so, es ist eine hohe Form der Anerkennung, dass ich das jetzt übernehme und kopiere. Und dann kommt Donald Trump und sagt: Ihr seid Diebe, ich belege euch jetzt mit Zöllen. Also jeder Wirtschaftskrieg ist am Ende des Tages immer auch ein Kulturkonflikt und ein Kulturkampf. Und diesen Kampf zu führen, bedingt ja, dass Menschen, die diesen Kampf führen, andere Menschen hinter sich scharen in Form von Parteien, in Form von nationalen Identitäten, die diese Überlegenheit eben spüren müssen. Weil sonst kann ich diesen Konflikt ja gar nicht führen. So, und da liegt für mich eben das große Problem: Woher nehmen wir diese Überheblichkeit? Und da hast du einen interessanten Satz gesagt: In Indien, sagst du, wirst du anders angeguckt. Ich habe in der Tat sehr stark den Eindruck, dass in dem Moment, wo sich zwei Menschen begegnen, die miteinander im Gespräch sind, die miteinander interagieren im Restaurant, beim Schenken von Service, bei der Begegnung auf der Straße, das sofort verschwindet und sich relativiert. Dass aber, sobald man sich in der eigenen Community, im eigenen Kosmos bewegt, es unwahrscheinlich leicht ist, andere zu instrumentalisieren. So, und da kommen wir wieder zu dem Punkt Menschlichkeit. Menschen miteinander können diese Schranken überwinden. Kollektive, Nationen, Völker, Identitäten im Sinne von Staatlichkeit, die können es ganz, ganz schwer. Und ich glaube, das ist so ein bisschen die Quintessenz.

Müller: Ja, das wollte ich vorhin zum Ausdruck bringen, indem ich sage: Welche Identität haben wir? Mit was identifizieren wir uns? Identifizieren wir uns mit „Ich bin jetzt Bayer“, „Ich bin jetzt aus dem Norden“, „Ich bin jetzt Deutscher“, „Ich bin jetzt Europäer“? Das ist dann etwas, mit dem wir uns identifizieren. Und das wird ja auch sozusagen gefördert, dass wir uns mit bestimmten Dingen identifizieren. Jetzt heißt es, wir sind nicht mehr Deutschland, wir sind Europa. Und wir wollen das Europa noch erweitern und finden das, wie wir leben, am allerbesten und deshalb sollen auch die anderen so leben, weil nur das richtig ist. Und ich sage immer: Die anderen sind möglicherweise genauso überheblich. Aber wir wissen das nicht, weil wir ja nicht in den Köpfen von den anderen drin sind. Das Individuum, also wir als Menschen, als einzelne Personen, wir erleben ja unser Leben nur so, wie wir selber es erleben tatsächlich, und nicht so, wie wir es erleben sollen nach Möglichkeit. Sind wir glücklich, sind wir glücklich. Sind wir unglücklich, dann kann uns jemand sagen: Aber du hast doch dies und jenes und das und das, also du solltest doch jetzt glücklich sein. Was aber nicht stimmt. Wir einzelnen Personen sind diejenigen, die die wichtigen sind. Und deshalb können wir relativieren, indem wir uns zurücknehmen und sagen: Okay, ich höre mir das erstmal an, warum denkt der andere genauso, wie er denkt? Aber das ist die Verantwortung jedes Einzelnen. Wir haben uns schon so oft darüber unterhalten. Und ich komme immer wieder zu der Verantwortung des Einzelnen zurück und möchte also jetzt nicht so gerne sagen: Okay, aber das Kollektiv macht das ja. Ich bin ganz genau deiner Meinung: Ja, das Kollektiv macht es. Und trotzdem habe ich als Individuum die eigene Verantwortung und auch die Kraft und die Macht, mich in andere Menschen hineinzuversetzen und mir zu denken: Okay, der denkt jetzt aber anders. Und ich möchte da ein ganz extremes Beispiel sagen, wirklich ein ganz extremes Beispiel: Und zwar dieser Konflikt mit den Terroristen –den Terroristen, die anderen die Köpfe abschlagen. Es ist ganz furchtbar und schrecklich und ich bin nicht dafür, dass anderen Menschen die Köpfe abgeschlagen werden. Und ich möchte auch nicht, dass mir irgendwer den Kopf abschlägt. Das möchte ich wirklich ganz genau zum Ausdruck bringen. Allerdings – was geht in dem Kopf von so jemandem vor? Wenn man jetzt bedenkt, dass der der hundertprozentigen Überzeugung ist, dass wenn er einen anderen Menschen tötet durch Kopfabschlagen, dem sämtliche Sünden, so wie wir das sozusagen sagen würden, wegschlägt und den sozusagen vom jenseitigen Leid befreit, dann tut der dem doch was Gutes.

Al-Omary: Was ja auch eine Form von kultureller Überheblichkeit ist.

Müller: Sag ich doch.

Al-Omary: Also selbst, wenn ich sage: „Das sind Ungläubige“ in dem Sinne, dass ich sage: „Ihr seid ungläubig und das sind Aggressoren, die meine Kultur bedrohen“. Und der Islamische Staat, auf den spielst du ja an, ist jetzt die kulturelle Elite. Denn die ganze Welt soll ja muslimisch leben und deren Standards haben. Wer das nicht tut, ist weniger wert, der ist ungläubig, dem kannst du den Kopf abschlagen. Das haben wir in ähnlicher Form ja auch im Nationalsozialismus erlebt, wo wir gesagt haben: „Deutschland, Deutschland über alles“, und wir müssen das exportieren. Und alle anderen sind minderwertige Völker und wir haben das Recht, die zu dominieren. Das ist ja der gleiche Geist. Die Frage ist nur: Wo kommt eben genau das her? Weil der einzelne Mensch, wie wir ja schon festgestellt haben, ja gar nicht derjenige ist, der diese kulturelle Überlegenheit fühlt. Was ihm aber möglicherweise fehlt, sei es durch mangelnde Kenntnis auch anderer Kulturen, vielleicht aber auch mangels Empathie oder der Fähigkeit, sich in andere Menschen und Lebensweisen hineinzudenken, weil er aus seiner Normalität nicht fliehen kann. Normalität ist ja ein ganz, ganz schwieriges Wort an dieser Stelle. Da ist ja die Frage: Müssten wir mehr reisen und müssten wir diese Dinge anders aufnehmen und in der Lage sein, durch die Brille des anderen zu gucken, um dessen Normalität zu erfassen, um dann Normalitäten und Normative vergleichen zu können? Und da müssten wir den Menschen ja hin befähigen, dass er das kann.

Müller: Wenn du mich fragst, woran hapert es: Meiner Meinung nach an Intelligenz im Sinne von Weitsicht, im Sinne von Selbstreflexion und im Sinne von falscher Identifikation. Also wenn wir zum Beispiel von den Lehren der Veden ausgehen, die lehren ja, dass wir als Mensch jenseits dieser Identifikationen einen Kern haben, in dem wir alle eins sind. Und dass, je mehr du zu diesem tiefen Kern kommst, umso mehr verschwinden die verschiedenen Differenzen, ja, umso weniger unterschiedlich wird das Ganze. Also man kann sich das so vorstellen: Der Mensch ist so etwas wie ein Baum. Er besteht aus Wurzeln, er besteht aus Stamm, er besteht aus Rinde, er besteht aus Ästchen, er besteht aus großen Ästen, er besteht aus Blättern, Früchten, Blüten. Der eine ist die Rinde und der andere ist ein Moos auf der Rinde. Dann haben wir hier unten ein Stückchen Wurzel, da oben ein kleines Blatt. Aber das ist alles im Grunde genommen eins. Und das Problem beginnt, wenn wir glauben, wir sind jetzt nur das Stückchen Moos und das Blatt da oben ist mein Feind und das Myzel da unten ist noch schlimmer. Aber im Grunde genommen wissen wir nicht, dass wir vom Bewusstsein her eins sind. Und das ist zum Beispiel auch das, was ich eben in Indien erlebe, und das ist, was mich prägt. Was eben auch meine Intention ist, in dieser Philosophie rüberzubringen, ist, dass wenn wir uns wirklich nur in diesem äußeren Schein verlieren, dass es da zu großen Konflikten kommt und auch zu Anfeindungen und zu Kampf und zu Kriegen und zu Rosenkriegen oder eben auch zu anderen unangenehmen Dingen.

Al-Omary: Ja, zu Kämpfen und Kriegen kommt es ja in dem Moment, wo jemand sagt: Ich werde schlechter behandelt als der andere. Ich Moos muss hier im Schatten sein und bin immer feucht und das Blatt oben ist in der Sonne und hat es gut und hat einen ganz anderen Überblick und wird ganz anders ernährt. Also dieses Gefühl von Ungerechtigkeit und oben und unten, dieses Gefühl von „Andere haben etwas, was mir auch zustünde“, da entstehen ja die Konflikte und dann gibt es natürlich Gruppen, Parteien, Organisationen, Interessengruppen, wie auch immer, die das dann instrumentalisieren und kanalisieren und in eine Art Kulturkampf bringen. Das ist aber ja so menschlich wie die Geschichte selbst.

Müller: Richtig. Jetzt gehen wir aber mal davon aus, in dem Moment, wo wir die Augen zu machen und schlafen, sind die Konflikte weg. Für denjenigen, der schläft, sind die Konflikte weg. Da müssen wir uns fragen: Wer bin ich jetzt eigentlich wirklich? Es geht ja darum zu ergründen, wie machen wir es besser, wie kommen wir dorthin. Und wir haben ja gesehen, dass all diese Versuche, die wir im Außen tun, um eben die Auswirkungen der falschen Identifikation durch weitere falsche Identifikation auszulöschen, nicht möglich sind. Das heißt also wieder, mein Anliegen und Ansinnen ist, wirklich tiefer zu gehen und über den Schein hinauszudenken und zu sehen: Die kulturelle Überheblichkeit ist hier genauso wie da drüben eine kulturelle Überheblichkeit. Die ist ja nicht nur hier. Das heißt also, wir versuchen die zwar zu exportieren, weil wir glauben, dass es das Nonplusultra ist. Wenn wir allerdings zurücktreten, uns selbst betrachten, die anderen auch betrachten können, dann sehen wir, dass das nicht der Fall ist.

Al-Omary: Ja, aber da sind wir wieder beim Thema kulturelle Identität. Natürlich braucht eine Nation, eine Kultur etwas, womit sie sich identifizieren kann. Sie muss sagen können: „Das sind wir, das sind unsere Normen, das sind unsere Maßstäbe“. Und natürlich hat es auch einen Sinn, diese Maßstäbe gegen andere zu verteidigen, wenn sie zu uns kommen. Also ich bin genau wie du der Meinung, dass wir einen gewissen Integrationsdruck und eine gewissen Anpassungsfähigkeit von Menschen, die hierher kommen, erwarten können, weil wir uns hier auf bestimmte Normen verständigt haben und die gelten hier halt. Und wenn du diese Normen nicht einhalten willst, dann bleibst du halt da, wo du herkommst, da kannst du deine Normen leben. Und da interessieren mich auch deine Normen nicht, weil das ist dein Land, deine Kultur und deine Identität. Das ist ja eine gewisse Form von Toleranz. Jetzt gibt es einen anderen Punkt, den ich gerne nochmal ansprechen möchte: Die Frage ist, ob wir das alles überwinden könnten, wenn wir es schaffen, uns eben nicht mehr als Siegerländer, Kölner, Deutscher, Europäer zu sehen. Sondern würde das nicht komplett verschwimmen, wenn wir einfach nur uns als Mensch sähen? Genau mit der These, die du vertreten hast: Es ist alles eins und alles ist mit allem verbunden. Wir erleben ja im täglichen Leben auch ohne, dass wir es so benennen wollen, dass es in der Tat diese Verbindungen gibt zwischen Menschen, Zusammenhängen, Logistik, Lieferketten. Also wir erleben jeden Tag, dass wir viel mehr mit anderen Menschen, Kulturen, Völkern, Dingen verbunden sind, auch mit Dingen in der Natur, als uns das vielleicht lieb ist. Und die Erfahrungshorizonte wachsen da ja auch. Wenn wir anfangen, uns als Mensch zu definieren und nicht mehr über die Nation und das zumindest mal grundsätzlich denken, uns einfach mal befreien von: Ich bin jetzt hier, das ist meine Realität, das ist meine Normalität, das ist meine Lebensweise, die ja okay ist und die jeder haben kann. Aber nur als Denkmodell zu sagen „Ich bin einfach nur Mensch“, würden in dem Moment aus deiner Erfahrung auch aus Indien diese Kulturkämpfe und die Überheblichkeit komplett verschwinden? Oder ist genau dieser Konflikt menschlich und gehört zu uns und ist immer noch da?

Müller: Wenn wir unsere Geschichte betrachten, dann können wir, oder zumindest sehe ich das so, verfolgen, dass wir immer weiter genau zu dieser Menschlichkeit finden, die du jetzt angesprochen hast. Also es gibt immer mehr einzelne Personen, die sagen: „Ich bin in erster Linie Mensch.“ Auch dem Unterschied zwischen Mann und Frau kann man zum Beispiel entrinnen, indem man sagt: „Ich bin in erster Linie Mensch, in zweiter Linie bin ich Mann, in zweiter Linie bin ich Frau. Das bin ich auch.“ Ja, ich würde das noch nicht einmal trennen. Also ich sehe, dass man das beides gleichzeitig sein kann. Man kann in erster Linie Mensch sein und dann Kölner. Und man kann Mensch sein und kann Berliner sein. Und man kann Mensch sein und gleichzeitig eine andere Kultur haben. Dann haben wir auch den Respekt. Und dann haben wir auch diese Achtung uns selbst gegenüber, unserer Identifikation gegenüber und auch der anderen Identifikation gegenüber. Also da finde ich, genau das wäre die Lösung. Das wäre eine Lösung, die ich auch anstrebe. Und ich fühle mich mit dem Gedanken schon sehr lange sehr wohl.

Al-Omary: Dann wäre die konsequente Antwort auf Kulturkämpfe, auf Identifikationsauseinandersetzung, du hast ja auch die Konfliktlinie Mann – Frau angesprochen, wir können das auf soziale Schichten übertragen. Also Konflikte, die sich auf verschiedenen Identitäten und Wahrheiten gründen, finden wir ja an jeder Ecke. Da sind Nationen ja nicht das einzige. Das bringt uns aber zu der so profanen wie banalen Antwort, dass am Ende nur der Humanismus und die Menschlichkeit und das Rückbesinnen auf das eigene Menschsein in der reinsten Form des Denkens diese Konflikte lösen hilft.

Müller: Und diese reinste Form des Denkens ist die höchste Form des Denkens. Also ich wehre mich dagegen, dass du jetzt so ein bisschen sagst, das ist profan. Das ist überhaupt nicht profan. Das Schwierigste, was du unternehmen kannst, ist, dich in diese Richtung zu bewegen. Das ist eine ganz große Herausforderung. Dafür gehen andere ins Kloster, damit sie das erleben.

Al-Omary: Ich meine, das ist ja auch jetzt, wenn man die freimaurerische Denke beispielsweise zugrunde legt, das Thema: Erkenne dich selbst, entwickle dich zu einem höheren Wesen, entwickle dich zu Humanismus. Und das haben wir in anderen Organisationen, Institutionen ja auch.

Müller: Ja, was dann aber wieder gelenkt ist. Das hat dann auch wieder so ein Geschmäckle dabei. Es geht wirklich darum, das für sich selbst zu erreichen.

Al-Omary: Na, der Weg dahin ist individuell. Aber auch wenn du ein Kloster nennst oder Kirche oder Meditation, auch all das ist ja am Ende institutionalisiert, um auf diesen Weg der Erkenntnis zu kommen. Das Fass würde ich jetzt gar nicht mehr aufmachen wollen.

Müller: Ja, okay.

Al-Omary: Meine Profanität, die ich eben meinte, ist nur die Erkenntnis, dass wir Konflikte überwinden, wenn wir humanistischer werden. Das ist ja, sage ich mal, eine relativ schmale Weisheit am Ende für so ein langes Gespräch. Und trotzdem bleibt es dann eben doch dabei. Vielleicht bleibt uns an dieser Stelle noch, jeden aufzurufen, genau diesem Gedankenweg einfach mal zu folgen, wenn er demnächst die Nachrichten sieht, das „Auslandsjournal“ sieht oder sich mit anderen Kulturen beschäftigt, wenn er im Urlaub ist, wenn er reist, wenn er liest, auch wenn er Belletristik liest, das mal durch eine komplett andere Brille zu sehen und das auf die reine Menschlichkeit zu übertragen. Das ist zumindest als Denktheorie sicherlich hilfreich, um eine gewisse Arroganz abzulegen. Und ich glaube sogar, dass das in Folge nicht dazu führt, dass wir einen Identitätsverlust haben.

Müller: Überhaupt nicht. Im Gegenteil.

Al-Omary: Sondern dass wir viel mehr Bewusstsein für die eigene Identität entwickeln können, wenn wir sie mit anderen vergleichen können, und sogar einen Gewinn an Identität bekommen.

Müller: Ja. Ich sehe das auch so. Wir gewinnen an Identität, je näher wir uns dieser Essenz der Menschlichkeit nähern. Genau.

Al-Omary: Dann haben wir ja doch noch eine Einigung gefunden.

Müller: Wir haben sogar noch eine Einigung gefunden. Das ist ja wunderbar. Dann freue ich mich auf das nächste Mal.

Al-Omary: Immer wieder gern. Bis zum nächsten Mal.

Müller: Bis zum nächsten Mal, bis dann.

 

Danke fürs Zuhören. Wir sind heute schon am Ende unserer Folge. Im zweiwöchigen Rhythmus geht es weiter. Und wenn Sie die nächste Folge mit als Erster auf Ihrem Handy empfangen möchten, dann abonnieren Sie doch einfach diesen Podcast. Wie das funktioniert, zeigen wir Ihnen in den (?Show-Notes). Ansonsten lädt Sie Annette Müller in ihre Facebook-Gruppe ein, um über die Gedanken zu heute und zu den nächsten Folgen zu diskutieren. In dem Sinne: bis zum nächsten Mal.