Episode #31 Gesellschaft im Stillstand
Annette Müller: Herzlich willkommen zum heutigen Podcast, Gedanken zur Menschlichkeit. Bei mir als Gesprächspartner, Falk al Omary, ein Profi zu den Themen der Gesellschaft, weil er lange Jahre in der Politik tätig gewesen ist. Und ich stelle die spannende Frage, „Gesellschaft im Stillstand“, könnte uns das letztendlich mehr Menschlichkeit bringen? Falk, herzlich willkommen. Meine These ist, wir stehen alle still, wir überdenken den Sinn unseres Daseins, weil wir dazu gezwungen sind, weil viele Dinge nicht mehr so funktionieren wie vorher. Könnte uns das zu mehr Menschlichkeit bringen oder bringt uns das mehr Krise?
Falk Al-Omary: Hm, ich habe darauf keine direkte Antwort, weil ich viele Menschen im Stillstand sehe, in der aktuellen Situation viele zum Stillstand gezwungen sind, mehr oder weniger Berufsverbote, mehr oder weniger gezwungen, mit null Umsatz klar zu kommen, mehr oder weniger gezwungen, zuhause zu bleiben und kein gewohntes Leben zu führen. Auf der anderen Seite sehe ich extrem viele, teilweise die gleichen Menschen, die um das Überleben kämpfen, die extrem viel strampeln müssen, die jetzt sehr viele Dinge zu tun haben, um jetzt auch die richtigen Weichen für die Zukunft zu stellen. Und ich nehme sehr viele Unternehmer und auch Familien wahr, die sehr viele Dinge unternehmen, die sehr zukunftsweisend sind, weil einfach jetzt auch die Zeit der Entscheidung gekommen ist. Dieser Stillstand bezieht sich, glaube ich, immer nur auf Teilbereiche des Lebens, oder er bezieht sich auf einzelne Branchen oder Berufsgruppen, aber diesen kollektiven Stillstand sehe ich nicht. Einen kollektiven Stillstand sehe ich eher, wenn ich die gesamte Gesellschaft sehe, aber nicht den einzelnen.
Annette Müller: Ja, ich ging vom Kollektiv aus. Es heißt ja im Moment, dass wir uns nicht mehr so verbinden sollen, dass wir uns nicht treffen sollen, dass wir Social Distancing aufrechterhalten sollen und das, was uns als Gesellschaft ausgezeichnet hat, war ja die Gruppierung, das einander treffen, das ist ja ein gemeinsames Sein, dass ist ja die Gesellschaft. Und hier ziehen wir uns alle zurück. Das heißt, wir haben hier sozusagen ein individuelles Mönchsdasein, um zu überdenken, was wir eigentlich tun und sollen im Idealfall. Ich sehe aber eben auch bei dem Nicht-Idealfall, dass eben Menschen anfangen, wirklich sich gegen Dinge aufzulehnen und aktiv zu werden, die uns eventuell nach vorne bringen und eventuell zurück. Das ist ganz unterschiedlich, diese ganzen Umgangsweisen mit dieser aufoktroyierten sozusagen Distanz, in die wir jetzt hineingehen müssen.
Falk Al-Omary: Wie du jetzt zurecht sagst, sie ist oktroyiert. Stillstand ist ja nicht in der menschlichen Natur, sondern Stillstand ist uns jetzt ein stückweit aufgezwungen durch die Umstände worden, in denen wir nun mal im Moment leben. Ich will nicht mal sagen, leben müssen, weil am Ende ist auch das eine politische Entscheidung gewesen, diesen Wege entsprechend so zu gehen. Andere Gesellschaften waren da ein bisschen globaler und weltoffener unterwegs. Bei uns wurde dann eben ein Lockdown gemacht, und wir wurden alle zu einer Zwangspause gezwungen, beispielsweise in Schweden war das ja nicht ganz so krass, aber am Ende sind es natürlich politische Entscheidungen. Und wenn wir über den Stillstand der Gesellschaft sprechen, dann müssen wir, meines Erachtens, auch über Politik sprechen, dann müssen wir über das Thema Entscheidungen sprechen, die in irgendeiner Art und Weise einen Stillstand überhaupt auflösen könnten. Und wenn ich da schaue, dann haben wir sehr, sehr wesentliche Entwicklungen in der Gesellschaft über Jahrzehnte hinweg verschlafen, die uns jetzt, in der jetzigen Situation, wie in einem Brennglas wieder begegnen und uns einholen. Das heißt, wir haben eigentlich gar keinen Stillstand, oder wenn wir einen Stillstand haben, dann ist der aus einem Entscheidungsnotstand heraus entstanden.
Annette Müller: Ich würde gerne mal mit kritischen Stimmen, die jetzt nicht meine eigenen kritische Stimme ist, sondern mit anderen kritischen Stimmen antworten, und sagen, dass genau das, was du jetzt gerade beschreibst, eventuell sogar eine Agenda hinter diesem Stillstand gewesen ist. Um zum Beispiel den Stillstand dazu zu benutzen, die Dinge, die man vorher nicht entscheiden durfte oder konnte, mit zu viel Gegenwind jetzt dann innerhalb dieses Stillstands und der empfundenen Ohnmacht vieler Menschen einfach zu sagen, „So, das machen wir einfach, weil es keinen Gegenwind mehr gibt.“ Zum Beispiel, die ganze Digitalisierung, denn Digitalisierung war ja eine Agenda in der Vergangenheit, die sich nicht durchsetzen konnte. Jetzt plötzlich war Homeoffice angesagt und zack, bumm, die Digitalisierung überschwemmt wie eine Welle den gesamten Globus. Könnte man denn da nicht eine Agenda dahinter vermuten?
Falk Al-Omary: Ich neige nicht dazu, zu glauben, dass es die eine große Agenda gibt. Ich glaube nicht an die große gemeinschaftliche Verschwörung von Staatslenkern. Ich glaube nicht an irgendwelche geheimen Organisationen, die Interessen durchsetzen und damit Regierungen zu irgendwelchen Handlungen zwingen. Ich glaube, dass wir diesen Stillstand irgendwie auch mögen. Ich sehe das in vielen Unternehmen, die haben kritische Entscheidungen nicht getroffen, und wenn die Politik dann irgendwelche Vorgaben macht, auch welche, die mir nicht gefallen, geht es doch. Wir haben in anderen Folgen über das Thema Klimakrise gesprochen, wo ich ja sage, ich halte das alles für Quatsch, ich finde dieses ganze Greta Thunberg-Getue, Fridays for Future, halte ich für unmöglich. Ich halte das für wirtschaftlich hochproblematisch und halte das für den falschen Weg. Unabhängig davon sind daraus politische Entscheidungen abgeleitet worden in Form von Vorgaben, was den Co2-Ausstoss angeht, und die haben dann Unternehmen gezwungen, ihre kompletten Flotten zu modernisieren mit weniger Co2-Ausstoss und umweltfreundlicher zu machen. Das wäre möglicherweise in einem schleichenden Prozess ohnehin passiert, weil die Verbraucher mündiger werden und diese Dinge fordern. Jetzt wurde es staatlich oktroyiert, und plötzlich war man zu handeln gezwungen. Das heißt, man braucht häufig einen Impuls von außen oder den Druck von außen, damit Dinge, die vorher sehr, sehr langsam passiert sind, weil sie eben nicht zwingend waren, dann plötzlich Realität werden müssen, und so hat auch Corona natürlich viele Dinge jetzt beschleunigt, weil es jetzt eben dann notwendig war und weil die Defizite aufgezeigt worden sind. Und so war es eben auch bei der Finanzkrise, bei dem Thema Bankenregulierung. Jede Krise der letzten Jahre hat Entscheidungen von uns erfordert, die dann Veränderungen gebracht haben, die wir ohne diese Krise nicht getroffen hätten, weil, es ging ja auch so. Dieses „es ging ja auch so“, das ist etwas, in dem viele leben, in dem viele gut klarkommen, und wo sich viele eingerichtet haben. Deswegen sind Krisen immer auch positive Impulsgeber.
Annette Müller: Jetzt habe ich gehört, dass du der Meinung bist oder die Meinung sozusagen vertrittst, dass diese Krisen zufällig entstanden sind und durch die Krisen wir dann eben genau diese Entscheidungen gezwungen sind, zu treffen, weil die Krise existiert. Jetzt möchte ich nochmal zurückgehen zu diesem Gedanken, könnte die Krise vielleicht gemacht worden sein, um diese Entscheidungen endlich zu treffen, die vorher eben tatsächlich nur eventuell ganz langsam vorangegangen wären?
Falk Al-Omary: Ja, du sprichst ja so eine Ursache-Wirkung-Dialektik an, wo man am Ende nicht weiß, was war zuerst. Das ist ja eine Henne-und-Ei-Diskussion.
Annette Müller: Ja, das ist ja auch sehr philosophisch.
Falk Al-Omary: Ja, ohne Frage. Gehen wir mal weg von dem Thema Corona, weil das jetzt gerade irgendwie aktuell ist. Nehmen wir mal die Finanzkrise. Nein, die ist natürlich nicht zufällig entstanden. Man hätte sehen können, dass es Immobilienblase gab, man hätte sehen können, dass es keine gute Idee ist, dass sich jeder Amerikaner mit einem Minieinkommen verschulden darf, um ein Eigenheim damit zu bauen. Das ist im ersten Schritt schon mal Staatsversagen und Politikversagen. Im zweiten Schritt ist es sicherlich keine gute Idee, dann diese Schulden zu Wertpapierpaketen zu bündeln und die kreuz und quer zu verkaufen. Natürlich ist das kein Zufall und absehbar. Genauso wenig war die Eurokrise ein Zufall. Natürlich wusste man, dass Staaten überschuldet sind und dass das irgendwann crashen musste, und dass das in irgendeiner Art und Weise uns um die Ohren fliegen wird. Ähnlich wie die Tage zwei Seiten bei der EZB. Keine dieser Krisen ist zufällig, auch nicht das Coronavirus. Dass natürlich Umweltzerstörung dazu führt, dass irgendwelche Umweltkatastrophen passieren, und ich neige dazu, das Virus sogar als solche Naturkatastrophe auch zu sehen. Auch das ist ja alles nicht zufällig. Es ist gesteuert durch menschliches Fehlverhalten, und dann kommt eben der Mist irgendwie zu uns zurück, und dann gibt es natürlich Profiteure der Krise.
Annette Müller: Und die Profiteure der Krise könnten diese Krisen nicht tatsächlich gemacht haben, um zu profitieren?
Falk Al-Omary: Ich glaube an die Gesetze der Marktwirtschaft und ich glaube an die Naturgesetze. Wie gesagt, eine Finanzkrise ist kein Zufall. Das ist nicht vom Himmel herabgefallen. Das ist die Summe politischer Fehlentscheidungen, und auch die Flüchtlingskrise ist die Summe politischer Fehlentscheidungen, um jetzt mal die ganzen Krisen aufzuzählen, die wir in den letzten zehn Jahren hatten.
Annette Müller: Gut, wenn wir sagen, Fehlentscheidung, dann ist es etwas, was uns nicht gefällt, weil etwas dabei herausgekommen ist, was wir als unangenehm empfinden, aber es waren einfach Entscheidungen, und da sind wir eben bei diesem Thema, warum werden Entscheidungen so getroffen, wie sie getroffen werden, die wir als Bevölkerung oder als Leittragende als fehlerhaft empfinden? Haben da Politiker zum Beispiel Angst voreinander? Gibt es da so eine sogenannte Peer Pressure?
Falk Al-Omary: Die Frage ist erstmal, wer ist „wir“? Ich glaube, wir empfinden das ja nicht alle als falsch, was passiert. Die Mehrheit der Bevölkerung findet jetzt die Corona-Maßnahme nicht falsch. Leider nimmt Mehrheit der Bevölkerung es auch nicht schlimm auf, wenn Banken reguliert werde, weil Banken ja eh irgendwie das Böse sind. Die Mehrheit der Bevölkerung fand auch die Aufnahme von Flüchtlingen 2015 richtig und auch heute gibt es auch noch eine große Hilfsbereitschaft. Wir erleben eine große Zustimmung zu den Maßnahmen. Ich wage aber die Behauptung, dass die Zustimmung deswegen so groß ist, weil sie in einem Krisenmodus getroffen werden. Würden die in einem normalen, demokratischen Diskurs getroffen, würden sicherlich mehr Diskussionen zu einem heterogeneren Bild führen, und so ist man ja permanent als jemand, der sagt, „ich bin dagegen, nein, ich bin Klimaleugner, ich bin Corona-Leugner, ich bin Finanzmarktkapitalist, ich kriege ja da sofort den Stempel drauf, wenn ich eben da in der Minderheit bin“, aber diese Minderheitspositionen sind legitim und wichtig.
Annette Müller: Wenn also tatsächlich Entscheidungen in einer Krise einfacher getroffen werden können, könnte es dann nicht tatsächlich sein, dass man eine Krise braucht und dann macht, um diese Entscheidungen endlich zu treffen?
Falk Al-Omary: Ja, das ist natürlich so. Natürlich braucht man eine Krise oder zumindest einen großen Druck. Ich meine, ich muss jetzt auch nicht jeden Kram zur Krise hochstilisieren, aber es muss einen großen, kollektiven Druck geben, bestimmte Entscheidungen zu treffen, weil das natürlich die Akzeptanz erhöht, und natürlich, um das auf die Politik zu münzen, die du ja angesprochen hast, Krisen sind immer die Chance für einzelne Akteure, sich extrem zu profilieren. Ein Gesundheitsminister ist jetzt selten ein Posten, der in irgendeiner Art und Weise für viel Ruhm sorgt. Da kann man richtig viel Ärger bekommen, aber man kriegt selten dann irgendwo den sozialen Aufstieg. Ein Gesundheitsminister wird danach nicht Außenminister oder Kanzler. Wenn du so eine Gesundheitskrise hast, kannst du dich damit profilieren. Das gilt dann eben auch für so einen Umweltminister, wenn eine Klimakrise ist. Krisen bringen Menschen hervor, die darin eine Profilierungschance sehen und sich in den Entscheidungen ein bestimmtes Image geben können. Auch Markus Söder ist ja in der Corona-Krise jemand, der mit so einem Spruch wie, „Södern statt zögern“ plötzlich auf das Tapet kommt. Krisen bieten Chancen der Profilierung und erhöhen den Druck der Entscheidung, und sie machen die Akzeptanz in der Bevölkerung leichter, insofern sind Krisen immer gute Zeiten für Politiker. Das ist ohne Frage so.
Annette Müller: Wir haben ja im Moment eine Krise, die die Gesellschaft in den Stillstand versetzt hat. Da sind wir uns mehr oder weniger einig. Falk, du bist Fachmann für Politik, deshalb möchte ich dich da sozusagen stellvertretend für Politiker und an dein großes Wissen appellieren, dass die Zuhörer und ich vielleicht ein bisschen Einblick bekommen in das, was dort so läuft und warum dann eben Entscheidungen getroffen werden unisono, und nicht irgendjemand sagt, „Diesen Stillstand, den wollen wir jetzt nicht haben, weil durch den Stillstand der Wohlstand an die Wand gefahren wird.“
Falk Al-Omary: Wir reden ja über zwei Arten von Stillstand. Wenn du von Stillstand sprichst, meinst du ja diesen verordneten Stillstand, wir müssen zuhause bleiben, wir haben soziale Kontakte reduziert. Es wird als Notwendigkeit verkauft in der Corona-Krise, um das Virus zu bekämpfen. Ich würde den Stillstand mal ein stückweit außen vor lassen, weil im Grunde ich selber diesen Schritt dann für mich nicht wahrnehme, und ich kenne viele, die ihn auch nicht wahrnehmen. Ich mache so viel Geschäftsreisen wie eh und je. Seitdem der Lockdown vorbei ist, bin ich ständig unterwegs. Ich treffe Kunden, ich bin ständig in irgendwelchen Gesprächen, und wir sitzen uns hier auch persönlich gegenüber. Das ist ja jetzt nicht so, dass man mehr oder weniger eingesperrt ist. Klar, finden keine Großveranstaltungen statt, aber der Verzicht auf Großveranstaltungen allein macht uns jetzt ja noch nicht irgendwie zu einsamen Wesen. Den gesellschaftlichen Stillstand finde ich wesentlich schlimmer, dass wir eben eine Digitalisierung so lange verschlafen haben, dass uns die Folgen dieser Krise jetzt so heftig wehtun, dass wir eben Digitalisierung verschlafen haben. Dass wir bestimmte gesellschaftliche Themen nicht bearbeitet haben, die uns jetzt um die Ohren fliegen, eben das Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Jetzt bin ich weiß Gott kein Sozialprediger, aber am Ende des Tages sind natürlich bestimmte Bevölkerungsgruppen von diesem ganzen Thema „Ich muss zuhause bleiben“ anders betroffen als andere und wir werden starke Verteilungskämpfe erleben. Das heißt, wir werden nach der Corona-Krise dann eine soziale Krise erleben, wo wir eine heftige Spaltung erleben werden, um die Verteilung der Ressourcen, die dann übriggeblieben sind, und auch da wird es wieder Profilierungsakte von Politikern geben. Wir müssen sehr genau überlegen, über welchen Stillstand sprechen wir? Den persönlichen Stillstand spüre ich nicht, den gesellschaftlichen Stillstand spüre ich, der ist aber, aus meiner Sicht, politisch gewollt, weil die großen Maßnahmen so irgendwie sich auch kaum vermitteln lassen, wenn nicht gerade Krise ist.
Annette Müller: Ja, das heißt also, meine Fragen, die ich anfangs gestellt habe, nur eben anders ausgedrückt, hast du jetzt sozusagen bejaht. Ich möchte nochmal darauf zurückkommen, wir haben einen globalen Stillstand mehr oder weniger, eine Unterbrechung der Lieferketten, eine Unterbrechung eines wirtschaftlichen Fortschritts. Wir sehen auf anderen Ebenen allerdings einen Fortschritt, zum Beispiel, in der Digitalisierung. Die Digitalisierung hat natürlich den Nachteil, dass die Vereinsamung des Individuums ganz stark fortschreitet. Dass zum Beispiel Beziehungen nur noch digital funktionieren, dass wir unsere Freunde zum Beispiel nicht mehr persönlich sehen, sondern mit denen dann eben chatten oder Videotelefonie machen oder sonst irgendetwas in der Richtung. Oder Cybersex oder irgendwie so etwas, aber davon wird sich die Menschheit nicht vermehren. Nochmal ganz grob gesagt, ich meine das ernst. Und könnte es nicht sein, dass genau diese Krise gemacht ist, weil, die Frage ist, viele werfen das ja in den Raum und es spaltet die Gemüter. Die einen sagen, diese Krise mit dem Virus ist jetzt eine Naturkatastrophe. Wir erleben aber in der Vergangenheit, dass sämtliche Naturkatastrophen wie Erbeben, wie Überschwemmungen, wie große Waldbrände dazu geführt haben, dass die Menschen zusammengefunden haben. Jeder hat einander unterstützt und geholfen. Die Zuwendung, die menschliche Zuwendung, die Menschlichkeit, die Liebe füreinander, die ist ganz stark entflammt und entbrannt, und man hat sich zusammengefunden und man hat die Krise bewältigt. Was wir jetzt sehen, und das sehen wir bei allen menschengemachten Krisen, ist diese feindschaftliche Spaltung, dass einander angreifen, dass einander hassen, dass einander verurteilen, und deshalb ist meine Frage, „Ist es eventuell möglich, dass das gewollt war, um eben bestimmte Dinge durchführen zu können, wo vorher die Gesellschaft „Nein“ gesagt hat, weil sie es zum Beispiel in irgendeiner Art und Weise als unmoralisch oder unmenschlich empfunden hatte?“
Falk Al-Omary: Die Frage ist, wer könnte das gewollt haben? Der Trend, dass wir sagen, es gibt immer mehr Singlehaushalte, der ist neu. Dass wir aus meiner Sicht eine Fragmentierung der Gesellschaft in kleinere Peer Groups, in so soziale Kokons erleben, ist auch nicht neu. Dass wir eine größere Ich-Bezogenheít haben in der Gesellschaft, einen größeren, ja, Egoismus, gar nicht mal nur negativ gesprochen, sondern auch eine Besinnung auf seine eigene Kompetenz und Stärke und seine eigenen Ressourcen, ist jetzt auch nicht ungewöhnlich. Das erleben wir seit vielen Jahren, diesen Trend, und, sagen wir mal, die am meisten entscheidende Zahl dürfte da eben sein, dass inzwischen, glaube ich, 40 Prozent der Haushalte Singlehaushalte sind. Das zeigt das ja so ein bisschen. Und dass Bekanntschaften über das Internet geschlossen werden und dass das sehr effizient ist, das hat sich auch herausgestellt. Das liegt aber einfach daran, dass ich, wenn ich in einem Club bin und da jemanden anspreche, ich zwar einen persönlichen Eindruck habe, aber ich kann ja vorher nicht das Matching machen. Dahinter stecken ja Algorithmen, die die Menschen auch zueinander passend machen. Digitalisierung bei der Partnerwahl ist ja noch gar nicht mal zwingend von Nachteil, sondern im Gegenteil, wenn ich vielleicht Wünsche eingeben kann, dann habe ich gleich schon ein Ausschlussverfahren. Ich glaube, das ist ein Trend, den haben wir seit vielen Jahren, der sich jetzt im Grunde beschleunigt, und erstaunlicherweise hat ja Corona, klar, mehr Scheidungen und auch mehr Zwist in den Familien, aber ganz, ganz viele sagen jetzt auch, „Nein, Familie ist mein Rückzugsort. Ich muss mehr Zeit mit der Familie verbringen. Ich möchte mich mehr um meine Kinder kümmern.“ Es gibt genau auch diese Bewegungen, dass viele jetzt sagen, „Nein, dieses traditionelle Familienbild gefällt mir doch irgendwie gut“, und viele Singles, die jetzt sagen, „Ich bin einsam gerade in der Corona-Zeit. Ich möchte das eben gerne wieder haben.“ Ich glaube nicht, dass uns diese soziale Distanz entmenschlicht. Ich glaube eher, dass sie bei vielen das verstärkt, was als Sehnsucht da ist. Ich war vorher schon gerne allein, deswegen habe ich mit Social Distancing kein Problem. Viele andere sind allein, haben darunter gelitten und leiden jetzt noch mehr, und viele sind in einer Familie und sagen, „Mensch, das war ein gutes Lebensmodell. Gut, dass ich Familie habe.“ Ich glaube, es bestärkt jetzt viele, die sozialen Kontakte wieder wertzuschätzen oder es bestärkt sie bei dem Weg, den sie gegangen sind, zu bleiben. Eine Entmenschlichung sehe ich nicht. Lasse mich noch einen Satz zu dem Thema Naturkatastrophen sagen und das würde ja dann zu einer Liebe führen. Ja natürlich, es ist ein Erdbeben, alle Häuser sind zusammengefallen, dann sitzen sie aber alle im gleichen Boot. Die haben alle das gleiche Problem, nämlich eine zusammengefallene Hütte und sie sind obdachlos. Jetzt, in der jetzigen Krise, hat jeder sein ganz eigenes Problem. Der Eventveranstalter hat ein anderes Problem als der Unternehmer im Lebensmittelbereich. Der eine hat ein Luxusproblem und Lieferschwierigkeiten und eine Riesennachfrage, der andere hat faktisch Berufsverbot. Jeder hat sein ganz eigenes Päckchen zu tragen, und deswegen ist es ganz schwierig, das mit einer Naturkatastrophe zu vergleichen. Wenn alle das gleiche Problem haben, dann löse ich es natürlich auch gemeinschaftlich im Sinne eines Wiederaufbaus. Hier zeigt sich eine noch stärkere Fragmentierung, weil, ich sage es mal ganz platt, jeder sitzt in seiner eigenen Scheiße im Moment und muss gucken, dass er sie irgendwie gelöst bekommt. Und das ist etwas völlig anderes als eine Naturkatastrophe, und deswegen kannst du nicht erwarten, dass das jetzt zu einem großen, kollektiven „wir packen an“ Wiederaufbau-Gefühl führt.
Annette Müller: Also, ich habe ganz am Anfang, als die ersten Lockdown- oder die ersten, wie soll ich das sagen, Panikinformationen sozusagen in der Bevölkerung angekommen sind, eine ganz große Solidarität gespürt. Ganz viel aufeinander Rücksicht nehmen, ganz viel „Jawohl, natürlich, wir müssen es verhindern“. Das habe ich gespürt, das war ganz am Anfang, und das fand ich total normal und natürlich. Und je weiter sich das hinausgezogen hat, umso schwieriger wurde es. Ich bin da nicht deiner Meinung, dass es definitiv nur zu ganz persönlichen Schwierigkeiten führt, sondern dass, was uns geeint hat ganz am Anfang war, wir solidarisieren uns, indem wir tatsächlich uns voneinander entfernen, damit wir einander nicht anstecken. Doch je weiter und je länger diese 14 Tage-Regel oder dieser Turnus vorangeschritten ist, umso mehr hat sich die Gesellschaft gespalten.
Falk Al-Omary: Ja, das stimmt zum Teil. Ich habe die Solidarität am Anfang ein stückweit auch gespürt. Ich glaube zu wissen, was du meinst. Es gab ja immer die Kritik, die Leute sind zu unvorsichtig und tragen keine Masken und sind so unvernünftig. Das habe ich eben nicht gespürt. Wenn ich da wirklich im Supermarkt war, habe ich eine unwahrscheinliche Rücksichtnahme erlebt, freundliche Bedienungen trotz einer starken Belastung wie selten zuvor, und der Gedanke, „Um Gottes Willen, jetzt nicht noch ein böses Wort. Es ist doch schon alles schlimm genug.“ Das war in der Tat spürbar so drei, vier, fünf Wochen, wo ich gedacht habe, „Ja, das ist wirklich irgendwie angenehm“, und ich hatte so den Eindruck, wir sind als Gesellschaft irgendwie auf eine Art und Weise total reif, dass wir dann doch so reagieren. Das habe ich auch mit einer großen Freude gesehen. Das täuscht aber nicht darüber hinweg, dass es natürlich harte Auseinandersetzungen über den richtigen Weg gab. Ich habe den Lockdown vom ersten Tag an kritisiert und war immer ein harter Gegner dieser Maßnahmen, obwohl ich genau diese Solidarität im Supermarkt dann auch gespürt habe, und ich konnte beides gleichermaßen aufnehmen. Ich halte die politischen Entscheidungen für falsch. Gleichzeitig sehe ich, irgendwie ist das schön, wie diese Gesellschaft sich jetzt auf diese Situation einstellt, aber es muss auch irgendwann nach der Phase der Angst dann auch darum gehen, Lösungen zu finden. Und die sind hochindividuell, weil meine Company ist nicht vergleichbar mit deiner, der Lebensmittelhändler, wie gesagt, ist nicht vergleichbar mit dem Eventmanager, der Künstler hat andere Probleme als derjenige, der im Supermarkt arbeitet und eher Überstunden schieben muss. Es gibt Menschen, die von der Krise profitieren, es gibt welche, die bitter darunter leiden, und wenn ich als Mutter von drei Kindern eben zuhause im Homeoffice sitze und der Chef ruft mich alle fünf Minuten an und die Arbeit muss trotzdem gemacht werden. Die Arbeit ist ja nicht weniger geworden, aber die Stressfaktoren wurden größer, dann bleibt das doch auch am Ende des Tages nicht ohne Folgen. Und dass diese Krise, das Nervenkostüm, alle, und da kann keiner sagen, er ist nicht betroffen, extrem belastet, und dass dieses angekratzte Nervenkostüm sich irgendwann Bahn bricht auch in Form von Zorn und eben nicht mehr Solidarität, auch von Ungerechtigkeit, das ist eine selbstverständliche Geschichte, und das hätte die Politik auch wissen müssen. Das ist einer Gesellschaft auf Dauer nicht zumutbar.
Annette Müller: Wer hätte denn einen Vorteil? Wer hätte den tatsächlich? Was wäre der Vorteil für die Politik, dass wir uns genau in dieser Situation befinden, in der wir uns heute befinden?
Falk Al-Omary: Die Politik hat dadurch gar keinen Vorteil.
Annette Müller: Gut, dann die Politiker.
Falk Al-Omary: Ja, es gibt weder die Politik noch die Politiker. Ein Parlamentarier ist ja nicht zwingend beteiligt an den Prozessen, die die Regierung macht. Mehr oder weniger, viele Corona-Maßnahmen werden ja von der Regierung beschlossen und laufen am Parlament vorbei. Das heißt, der einzelne Bundestagsabgeordnete ist nicht zwingend in einen Topf zu werfen mit dem, was in den Ministerien entschieden wird. Der Landtagsabgeordnete hat eine andere Möglichkeit als der Bundestagsabgeordnete, und kommunal sieht es eh nochmal anders aus. Also, den Politiker gibt es schon mal nicht. Dann haben die Parteien natürlich auch teilweise unterschiedliche Meinungen. Profitieren tun davon diejenigen, die sich als Krisenmanager inszenieren können. Ein Gesundheitsminister, so mancher Ministerpräsident, auch mancher Virologe, der jetzt plötzlich in die Politik eingreift, der plötzlich gefragt wird. Das ist aber ja immer so. In dem Moment, wo irgendetwas passiert, werden einzelne Menschen zu Experten, und qua Funktion oder qua Amt zum Krisenmanager, und auf die werden dann Hoffnungen projiziert. Die profitieren natürlich in ihrer politischen Vitae davon, aber jetzt ernsthaft zu glauben, dass irgendein Bundestagsabgeordneter im nächsten Jahr auf große Sympathie trifft und wiedergewählt wird, weil er jetzt Abgeordneter war, das halte ich doch für mehr oder weniger ausgeschlossen. Entweder hat er eine gute Arbeit gemacht im Wahlkreis oder nicht, oder er hat sich bis zur Unkenntlichkeit angepasst, dass er keine Ecken und Kanten mehr hat, oder er hat genau das Gegenteil getan, er hat sich profiliert, aber weil Krise ist, wird nicht so ein Abgeordneter wiedergewählt. Im Gegenteil, der muss sich ja auch diesem ganzen Zorn entgegenstellen, den das ja auch auslöst.
Annette Müller: Gibt es da wirklich nur Einzelpersonen oder Individuen, die davon profitieren oder nicht profitieren, oder gibt es da eventuell noch irgendetwas anderes, was profitieren könnte, von dem wir beide jetzt noch gar nicht wissen, was das sein könnte? Ja, ich würde das gerne hinterfragen, weil ansonsten heißt es ja, „Wir werden von Individuen gesteuert, und was die sagen, müssen wir tun“. Das ist ja, sozusagen, despotisch, und diese ganze Geschichte, wie wir sehen, verselbständigt sich ja. Das ist ein Rad, was in das Rollen gekommen ist und wir können es nicht mehr aufhalten, oder es ist ein Schneeball, der angefangen hat, hier herunterzurollen und wird dann plötzlich zu einer riesengroßen Lawine, die dann alle unter sich niedermäht. Ist das wirklich definitiv nur individuelle Entscheidung, die uns dort hingebracht hat?
Falk Al-Omary: Nein, ich sage mal, ja und nein. Viele interagierende Individuen nennt man System, und das politische System in Deutschland ist so stabil, dass es ohne einzelne Individuen natürlich klarkommt. Der einzelne Abgeordnete im Parlament hat jetzt nicht die Macht, Dinge zu verändern oder nicht, aber er hat in der Interaktion mit anderen Individuen in einer Fraktion oder in einer Partei dann natürlich schon die Möglichkeit, Dinge in eine andere Richtung zu drängen, auch durch Einfluss auf die Regierung, weil die Regierung ja wiederum aus den Fraktionen heraus gebildet wird. Das System an sich, das profitiert, glaube ich, schon von diesen Maßnahmen, weil am Ende natürlich kumuliert das ja meistens in dem Satz, „Eine Krise ist die Sternstunde der Exekutive“, und viele rufen jetzt nach dem starken Stein, nach dem starken Staat. Und dass wir am Ende noch mehr Verordnungen haben werden, dass wir noch mehr Regulierungen haben werden, dass wir noch mehr Bürokratie haben werden, dass wir mehr Überwachung haben werden, dass wir mehr Einflussnahme haben werden, staatlicher Institutionen und Behörden auf unser Leben, dass wird sicherlich eine Folge sein. Das heißt, jede Krise fordert Reaktionen. Diese Reaktionen sind staatlich und diese staatlichen Reaktionen stärken am Ende den Staat, und damit für freiheitsliebende Menschen die gefühlte Obsession. Das ist definitiv eine Folge. Davon profitiert aber nicht der einzelne Abgeordnete, sondern insgesamt wird nur der Staat als System stärker. Und da müssen wir, glaube ich, wachsam sein.
Annette Müller: Ja, das leuchtet ein, das wird ja auch von vielen vermutet, aber was ist denn der Vorteil davon, dass dieser Staat in seiner Überwachungsmöglichkeit und Regulierungsmöglichkeit gestärkt ist?
Falk Al-Omary: Das hängt ein bisschen davon ab, wen du fragst.
Annette Müller: Ja, dich.
Falk Al-Omary: Die Gewerkschaft, auch sonst. Wenn die Gewerkschaft, die sagen ja, nur starke Menschen können sich einen schwachen Staat leisten, und starker Staat bedeutet für viele Menschen Sicherheit und eine Art Geborgenheit, und viele mögen ja diese Hängematte. Eigenverantwortung ist jetzt nicht so superpopulär zurzeit. Ein Leben komplett frei zu führen, ist sowieso eine Utopie, aber den Wunsch höre ich auch von immer weniger Menschen. Und deswegen bin ich bei dem gleichen Thema wie am Anfang. Das ist eine Henne-Ei-Diskussion. Möchten Menschen einen starken Staat und akzeptieren deswegen, dass er immer mehr in meine Lebensbereiche vordringt und in einer Krise nochmal stärker vordringt, wo natürlich Angst auch einen guten Boden bereitet, das zuzulassen? Oder tut der Staat das, was die Bevölkerung eigentlich erwartet? Erdulde ich das oder sehne ich das sogar herbei? Die Frage ist schwer zu beantworten. Ich glaube, dass wir in einer Art Neokollektivismus kommen und uns ein Stück weit vielleicht auch chinesischen Verhältnissen annähern werden. Jetzt ist das eine andere Kultur, die sind ja ohnehin viel kollektivistischer, aber die Sehnsucht nach mehr Gemeinschaft, nach starken Institutionen unter dem Motto „Da muss sich doch einer kümmern, dass kann man doch nicht den Privaten überlassen. Wo kommen wir den hin, wenn Individuen so viel Macht haben?“, das spüre ich schon, und ich kann mir wirklich vorstellen, dass diese Kombination aus Digitalisierung, weil natürlich kluge Entscheidungen einer künstlichen Intelligenz ja immer abwägen müssen, und die wählt natürlich auch ab für eine große Masse und nicht für das Individuum, plus der Wunsch nach mehr Gemeinschaft und Kollegialität und Kollektivität, und mittelfristig zu einer Art China-light-Macht, und das die Menschen sogar gut finden werden.
Annette Müller: Und davor haben ja ganz viele Angst, und wir haben also jetzt im Moment eine Gesellschaft nicht nur im Stillstand, sondern eben auch in der Angst, und da möchte ich auch ganz gerne fragen, wie ist das überhaupt? Die Menschen möchten ja Sicherheit, aber nicht die Sicherheit aus Angst heraus, sondern sie möchten Sicherheit, um angstfrei leben zu können. Das heißt, die Menschen möchten auch, dass die Politiker ihre Interessen sozusagen vertreten. Was aber dann hinterher immer gesehen wird, es war nicht der Fall. Das heißt also, viele Menschen haben das Gefühl, die Politiker meinen es nicht gut, der Staat meint es nicht gut mit uns. Ich habe mir da Gedanken darüber gemacht und bin zu folgendem Schluss gekommen und möchte gerne von dir wissen, ob ich da jetzt falsch denke. Wir, die Bevölkerung, wir möchten, dass die Politiker uns mit unseren Interessen vertreten. Das heißt, wir möchten, dass die uns Gutes tun. Damit wir die Politiker, die uns im Endeffekt Gutes tun sollen, wählen, braucht ein Politiker eine Wahlkampagne. Diese Wahlkampagne wird aber nicht von der Bevölkerung finanziert, sondern die Politiker haben reiche Freunde. Diese reichen Freunde finanzieren die Wahlkampagne. Dadurch wird der Politiker berühmt, beliebt und er wird gewählt. Dann heißt es hinterher, „Tja, ich bin dein reicher Freund, ich habe dir geholfen, und jetzt erwarte ich von dir auch Hilfe“. Das ist doch für mich eine Form von Korruption, weil die reichen Lobbyisten zum Beispiel Wahlkampagnen finanzieren, und deshalb kann ja im Endeffekt der Politiker die Interessen der Bevölkerung oder des Wählers gar nicht mehr vertreten, weil er in der Schuld des Finanziers steht.
Falk Al-Omary: Das ist einfach schlicht falsch.
Annette Müller: Falsch. Gut, erkläre mir das. Das finde ich super. Danke.
Falk Al-Omary: Das ist schlicht falsch. In den USA ist es natürlich so, dass viele reiche Leute dann auch zum Präsidenten oder Senatoren oder was auch immer, Wahlkampf unterstützen. In Deutschland sind gar nicht so viele private Mittel im politischen System. Eine Partei finanziert sich in der Regel aus Mitgliedsbeiträgen und aus Parteispenden, aber diese Spenden sind kein so großer Anteil. Und dann gibt es eine staatliche Parteienfinanzierung. Das heißt, du bekommst für jeden Euro Mitgliedsbeitrag und für jeden Euro Parteispende nochmal einen staatlichen Obolus obendrauf. Du bekommst auch für jede Wählerstimme, die du bekommen hast, nochmal einen staatlichen Obolus obendrauf, und am Ende finanziert der Steuerzahler als Kollektiv einen Großteil der Parteien, weil die Parteien den grundgesetzlichen Auftrag haben, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken. So steht es dann auch im Grundgesetz, und das ist die Legimitation, dass der Staat Parteien finanziert, wenn sie eine gewisse Relevanz haben. Deswegen ist auch dieses Thema „Bezahlen nach Anzahl der Stimmen“ eine Größenordnung, die nachvollziehbar ist. Den reichen Spender, der einen Kandidaten unterstützt, den gibt es schlicht nicht. Ich habe selber viele Wahlkämpfe gemacht. Ich habe 2005 für den Landtag kandidiert, und ich hatte in der Tat Spenden akquiriert, aber dann eben von Parteifreunden. Und natürlich ist dann vielleicht ein Unternehmer in der Partei, der sagt, „Mensch, ich finde dich als Kandidaten gut“, aber dann reden wir mal über Tausend, zweitausend Euro. Wir reden hier nicht über Summen, die irgendeinen in eine Abhängigkeit bringen. Es gibt schlicht nicht diese 50, 100 Millionen Spenden, die in den USA, auch nur in Ausnahmefällen, aber da gibt es, das möglich sind. Das findet hier schlicht nicht statt. Parteienfinanzierung ist hochdemokratisch und deswegen gibt es keine Abhängigkeiten. Was es natürlich gibt, ist, dass Lobbyisten Einfluss auf Politik nehmen. Das ist aber auch gewollt, erstaunlicherweise finden wir ja auch so einen Green Peace-Lobbyisten gut, den nennen wir liebevoll Aktivist. Das finden wir dann irgendwie ja ganz in Ordnung, und wenn VW Einfluss nimmt, ist das dann aber ein böser Wirtschaftslobbyist. Da unterscheiden wir in gut und böse. Beide machen Lobbying, beide nehmen auf Gesetze Einfluss, beide haben Netzwerke, beide beeinflussen die Politik, beide sind Teil des Systems und total verbandelt mit politischen Akteuren, aber der eine ist liebevoll der Aktivist, und der andere ist der böse, kapitalistische Lobbyist. Da gibt es natürlich Teile des Systems. Wenn ich eben vom System gesprochen habe, dann sind das auch nicht nur Politiker. Dann sind das eben Lobbyisten, dann sind das auch Journalisten, dann sind das Verbandsfunktionäre. Da hängt schon extrem viel dran, dieses politische System ist viel komplexer als nur das Parlament. Und weil das System aber so ist, wie es ist, es ist ja in Deutschland extrem stabil, selbst ein Regierungswechsel löst hier keine großen Katastrophen aus. Wenn in den USA die Regierung wechselt, werden die alle ausgetauscht, da werden Tausende von Verwaltungsjobs in der Administration ausgetauscht bis dann irgendwie runter zu irgendwelchen Schreibtischtätern. In Deutschland tauschst du die Minister aus, ein paar Staatssekretäre, ein paar Abteilungsleiter. Da werden mal 50 Leute dann gewechselt, aber das System bleibt weitgehend erhalten. Diese Stabilität ist auch etwas Positives, aber das ist überhaupt keine Korruption. Das Bild, dass du vom Politiker malst, ist schlicht falsch. Der Politiker ist eher, und das ist mein Problem, maximal mittelmäßig. Es gibt ja den schönen Spruch, dass ein Parlament der Querschnitt der Bevölkerung sein soll. Das ist leider auch so, das finde ich ganz schlimm. Ich möchte von der Elite regiert werden und nicht von Greti und Bleti. In dem Sinne hast du recht und dieses Mittelmaß wird natürlich ein stückweit von den Privilegien, das so ein Amt mit sich bringt, korrumpiert. Man findet es halt toll, in der Politik zu sein. Da gebe ich dir Recht, aber das ist so eine Eigenkorruption. Aber dass da Geld im Spiel ist, Mächte im Spiel sind, weil sie sich einen Politiker kaufen kann, ist in Deutschland ausgeschlossen.
Annette Müller: Das klingt sehr beruhigend. Dann habe ich wahrscheinlich das amerikanische System jetzt gerade sozusagen beschrieben mit den vielen Millionen von Wahlhilfen, und dann eben hinterher dem Geber und Spender verpflichtet zu sein, und deshalb quasi nicht die Interessen des Volkes vertreten zu können. Gehen wir nochmal zurück zu unserer Gesellschaft im Stillstand. Was siehst du? Siehst du da irgendein Ausweg? Siehst du, dass uns das jetzt mehr Menschlichkeit bringen könnte oder noch weiter entzweit?
Falk Al-Omary: Ich würde zu dem Punkt kommen, an dem wir schon öfter in unserem gemeinsamen Podcast waren. Es liegt am Ende an jedem selbst. Wenn mich jemand anlächelt, dann lächle ich zurück. Ein bisschen schwer mit der Maske.
Annette Müller: Ja, heutzutage.
Falk Al-Omary: Ja, das stimmt natürlich auch, aber du musst ja, Gott sei Dank, auch nicht überall Maske tragen. Realistischerweise trägst du ja vielleicht zehn Minuten am Tag mal eine Maske. So fürchterlich schlimm ist das jetzt ja auch nicht. Viele können auch mit den Augen lächeln. Das muss ich auch noch üben, aber natürlich ist es erstmal so, dass wir selber verantwortlich sind. Wir haben doch eben dieses schöne Gefühl beschrieben, dass wir draußen waren, als der Hart-Lockdown war und wir gespürt haben, man geht gut miteinander um. Da sind wir ja selbst verantwortlich, dass auch wieder stückweit zu den Menschen zu bringen, die wir dann auch noch sehen können. Das kann nicht der Staat verordnen. Das ist keine politische Aufgabe. Das ist Sache der Menschen.
Annette Müller: Ich denke, es wäre schön, darüber nachzudenken, was uns da jetzt dann gespalten hat, weil diese Anfangszeit nämlich wirklich eine sehr schöne menschliche Zeit gewesen ist. Vielleicht können wir darüber in einem anderen Podcast nochmal gemeinsam nachdenken.
Falk Al-Omary: Ich weiß jetzt, dass das eine schöne Zeit war. Es gab nur in dieser schrecklichen Zeit einige schöne Episoden. Aber gerne können wir das Thema nochmal aufnehmen. Da freue ich mich sehr darüber.
Annette Müller: Ja, und wir würden uns sehr freuen, wenn Sie uns dann wieder zuhören. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Alles Gute. Bis zum nächsten Mal.
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