Episode #23 Wie wertvoll ist Leben?

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„Gedanken zur Menschlichkeit“ ist ein philosophischer Podcast mit Annette Müller. Der Podcast möchte bewusst Kontroversen schaffen und neuen Gedanken abseits des Mainstream Raum geben.

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Hier können Sie diese Podcastfolge nachlesen:

Annette Müller: Hallo und herzlich willkommen zum neuen Podcast. Heute wieder in aktueller Betroffenheit. Wie könnte es anders sein als das Thema der Auswirkung der Corona-Maßnahmen. Das spannende Thema heute, das ich mit Falk Al-Omary diskutieren möchte, ist die Frage, wie wertvoll Leben ist. Falk, herzlich willkommen. Wie wertvoll ist Leben? Fragen wir uns das gegenseitig.

Falk Al-Omary: Ja, die Frage habe ich mir in der Tat auch gestellt in den letzten Wochen und Monaten. Weil das Thema, wir müssen alle zuhause bleiben und wir müssen uns an die Regeln halten und wir müssen Verantwortung für andere übernehmen und wir müssen Masken tragen, ja immer unter der Überschrift erfolgt ist, damit rettest du Leben. „Stay at home“ war ja der Slogan und dahinter steht ja „Flatten the Curve“. Rettet Leben. Und ich habe mich dann immer gefragt, welches Leben meinen die denn jetzt wirklich? Weil ich mich in meinem Leben extrem eingeschränkt habe. Weil ich immer gesagt habe, naja, Leben ist ja nicht im biologischen Sinne Stoffwechsel, physischen Wachstum, Energieaustausch, Fortbewegung, Fortpflanzung. Sondern Leben ist eben auch, sich persönlich zu entfalten, nach Glück zu streben, Genuss zu erleben. Und wir haben einen sehr existenzialistischen Lebensbegriff zum Maßstab von Politik und von unserem Verhalten gemacht. Ich sage das mal ganz hart: also ich atme, ich esse und ich scheide aus. Und so ist das Leben natürlich etwas, was geschützt wird und was auch politisch gewollt ist, dass es geschützt wird, was ja auch in Ordnung ist. Aber auf der anderen Seite wird mir ein großer Teil meines Lebens genommen. Dass ich hier nicht mehr essen gehen kann, dass ich nicht zu Veranstaltungen gehen kann, dass ich meinen Beruf nicht mehr ausüben kann, dass ich keine Freunde mehr treffen kann, dass ich meine Großmutter nicht im Altenheim besuchen kann. Das ist eben auch Leben. Wenn man sagt, Corona hat mein Leben ruiniert, dann meint man eben nicht das existenzialistische Leben oder das biologische Leben, sondern meint das Leben im Sinne von erleben und erfahren. Das wurde eben nicht geschützt. Und deswegen finde ich die Frage spannend, wie wertvoll ist denn überhaupt Leben? Kann man Leben überhaupt in materialistischen Werten aufwiegen? Und ist Leben wirklich nur der reine Funktionserhalt? Das erleben wir ja auch in der Debatte um Sterbehilfe oder bei anderen Gesundheitsthemen. Wir müssen Leben retten. Ich finde, der rein existenzialistische Begriff des Lebens springt mir deutlich zu kurz. Und würde man den Lebensbegriff erweitern, wären möglicherweise andere politische Entscheidungen getroffen worden. Deswegen springt mir das ehrlich gesagt zu kurz und deswegen finde ich das Thema so spannend.

Annette Müller: Also ich habe letztens gelesen: „Ich will mein Leben zurück. Ich möchte mein Leben zurück.“ Das war sozusagen der Hilferuf einer Frau, die gesagt hat, die Corona-Maßnahmen haben mir mein Leben geraubt. Ich möchte mein Leben zurück. Ich glaube, wir würden uns leichter tun, wenn wir tatsächlich auch verschiedene Worte für diese Aspekte des Lebens finden würden. Dann würden wir wissen, was wir genau meinen mit dem Leben und lebendig sein. Ob wir Leben am Atmen festmachen oder eben nicht. Ich finde diese ganze Debatte um „Wir müssen Leben retten“ einerseits ganz wunderbar. Andererseits ist es auch wieder komplett paradox, wenn zum Beispiel jetzt neue Erste Hilfe-Anleitungen gegeben werden. Dass man sagt, okay, Corona könnte sich über Mund-zu-Mund-Beatmung oder über die Erste Hilfe-Maßnahmen übertragen, deshalb sollen diese Erste Hilfe-Maßnahmen unterbleiben. Und da sind tatsächlich Leute schon gestürzt und denen ist etwas passiert und die Menschen haben ihnen nicht mehr geholfen, weil sie Angst hatten, sich anzustecken. Also das ist ja ein Paradoxon.

Falk Al-Omary: Ja, das ist Selbstmord aus Angst vor dem Tod.

Annette Müller: Ja, das ist gutgesagt.

Falk Al-Omary: Und das ist es eben, was ich auch in vielen Bereichen erlebe. Deswegen bin ich dir dankbar, dass du sagst, es gibt verschiedene Facetten des Lebens und eigentlich müsste man dafür verschiedene Begriffe finden. Weil wir natürlich einerseits dieses transzendentale Leben sehen, das spirituelle Leben, das religiöse Leben, von dem wir sagen, es ist der Geist, es ist das Denken, es ist das, das auf der Welt wandelt. Das ist ja so ein Lebensbegriff und das uns von Gott geschenkte Leben. So, und dann ist es das rein existenzielle Leben, atmen, essen, ausscheiden. Und dann ist es eben auch das, was wir im Allgemeinen Leben nennen. Wo dann so Begriffe wie Alltag, Glück erleben und Streben nach Glück, Strebsamkeit, in einer Gesellschaft integriert sein fallen. Also dieses gesellschaftliche Leben. Das sind in der Tat drei verschiedene Bereiche. Und alles ist am Ende irgendwo betroffen. Und politische Entscheidungen und generelle Debatten werden immer festgemacht an dem existenziellen Begriff Leben. Und ich habe mich oft gefragt, würdest du noch leben wollen, auch existenzialistisch, wenn du dein Leben lang zuhause bleiben müsstest, wenn du nie wieder essen gehen dürftest, also wenn das jetzt dein Leben wäre? Wäre das nicht eher ein Vegetieren? Da habe ich dann gesagt, dann bin ich meines Lebens Sinns beraubt und dann brauche ich im Grunde auch nicht mehr leben. Und ich werde mal noch provokanter. Ich weiß, das gibt wahrscheinlich auch wieder einen Shitstorm. Ich frage mich ehrlich gesagt auch manchmal, welches Leben wir da überhaupt verteidigen. Das nicht bezahlte Reihenhäuschen, der Lebenspartner, der einem sowieso auf den Keks geht, der Job, über den ich den ganzen Tag nur schimpfe, meine 50 Quadratmeter Wohnung mit einer Miniküche? Also welche Banalität an Leben ist das eigentlich, an dem wir so hängen? Ich weiß, dass das hier eine sehr nihilistische Sicht ist und die viele gar nicht verstehen werden. Aber ich frage mich, an was klammern wir uns denn eigentlich so? Wenn ich über Leben nachdenke und die vielen Dingen. Und dann denke ich auch manchmal, naja, eigentlich seid ihr schon tot. Ihr atmet nur noch.

Annette Müller: Gutes Stichwort. Also wirklich, im spirituellen Sinne und im philosophischen Sinne ist das Leben an sich gekoppelt an den Odem. Also an die Lebenskraft. Die Lebenskraft in einem Körper bewirkt, dass der Atem ein- und ausgeht. Und das ist ein Lebendig sein, das heißt eine Lebensfähigkeit, um überhaupt etwas zu erleben. Bedeutet, solange der Körper noch ein- und ausatmet, ist der tatsächlich noch lebendig. Das heißt, das Leben ist in diesem Körper. Wenn dann der letzte Atemzug, der letzte Aus-Atem, hinausgeht und kein Einatmen mehr hineinkommt, heißt das, die Seele hat dann den Körper verlassen. Und dann ist dieser Körper kein Körper mehr, sondern wird als Leiche bezeichnet. Und ich denke mal, das können wir jetzt mal beiseitelassen, denn um diese Art Leben soll ja unsere Diskussion jetzt gerade nicht gehen. Oder soll sie auch darum gehen? Weil wir doch im Zuge der Corona-Maßnahmen ja auch abgewägt haben, wer darf jetzt weiter atmen, wessen Atem darf stillstehen und wer muss zwangsläufig beatmet werden? Das ist ja auch sehr …, wollen wir mal sagen, es klingt ja schon sehr philosophisch, das Ganze. Also wer darf aufhören zu atmen, wer muss aufhören zu atmen, wen muss man zum Atmen zwingen und wer darf nicht beatmet werden. Und wem darf ich jetzt das Leben nicht retten, weil, man könnte sich ja mit Corona anstecken.

Falk Al-Omary: Ja, parallel wird uns aber ja das Atmen nur noch durch Masken erlaubt. Also Atmen ist ja auch eine potenzielle Gefahr.

Annette Müller: Man nimmt uns den Atem.

Falk Al-Omary: Auch in mehrfacher Hinsicht.

Annette Müller: Und Corona ist eine Lungenkrankheit, also der Kreis schließt sich, ist schon eine tolle Philosophie, die wir hier heute haben.

Falk Al-Omary: Und in dem Sinne ist es halt schon mit dem Atem. Ich finde schon das generelle Thema auch wichtig. Weil ich glaube, dass die Menschen sich deutlich verändern, dass ein anderes Bewusstsein stattfindet, dass eine andere Lebensweise – zumindest für den einen oder anderen, der reflektiert – jetzt irgendwo dann ansteht und er sich da in einer Entscheidungssituation befindet, mache ich jetzt links oder mache ich rechts rum. Aber mir springt halt dieser existenzialistische Ansatz von Leben zu kurz und ich möchte mal einen anderen Aspekt mit reinbringen. Die Frage war ja, wie wertvoll ist Leben. Und es gibt in den USA einen schönen Film drüber, dass, wenn eine Flugzeugkatastrophe passiert, oder auch nach Nine-Eleven, als die Maschinen in das World Trade Center geflogen sind, da war die Frage, wie werden denn die Hinterbliebenen entschädigt? Und da hat man sehr klar gesagt, wir berechnen den Wert des Lebens. Also wie alt ist jemand, was hatte der für ein Einkommen? Wenn ich eine vergleichbare Biografie habe, hätte der noch gearbeitet, welche Karrierestufe hätte der erreicht, wie viel Geld hätte der noch verdient, wie viele Steuern hätte der bezahlt, wie viel Vermögen hätte der aufbauen können. Also ein junger Mensch kriegt dann mehr, also die Eltern eines jungen Menschen kriegen mehr Entschädigung als der Ehemann einer verstorbenen Rentnerin. Also man hat am Ende Entscheidungen getroffen, indem man wirklich menschliches Leben mit einem monetären Wert hinterlegt hat. Und auf der anderen Seite retten wir rein existenziell das nackte Leben in biologischem Sinne. Und das ist auch so ein Paradoxon. Also wenn man den Mut hätte, man darf Leben nicht aufrechnen, das hat ja der Ethikrat auch klar gesagt in Deutschland, dass die Entscheidung, wer leben darf, nach rein medizinischen Gesichtspunkten erfolgen muss. Und die große Sorge in Deutschland war ja eine Triage. Wer kriegt das Beatmungsgerät und wer kriegt keins. So, und dann hätte ich durchaus den Ansatz zu sagen, ich finde diesen monetären Ansatz durchaus auch einen Faktor, den man berücksichtigen könnte und müsste. Und werfe mal in den Raum, dass in der Tat Leben unterschiedlich ist. Und wenn wir ganz ehrlich sind, macht es der Staat ja auch so, indem er sagt, wem hilft er denn jetzt, wer kriegt denn Ausnahmen von den Lockerungen, wer wird denn in dem Lockdown besonders bestraft, wen trifft es denn am härtesten? Am Ende entscheiden wir auch materialistisch, monetär und finanziell. Wir sprechen es nur nicht aus. Und es ist eine hochethische und philosophische Frage, darf man Leben mit einem materiellen Wert zumindest gedanklich quantifizieren und vergleichen.

Annette Müller: Also, wenn du mich fragst, meiner Meinung nach ist das sogar unbedingt notwendig. Ein Leben mit einem materiellen Wert zu bemessen. Weil der materielle Wert uns den Boden überhaupt zum Leben gibt. Also ohne materiellen Wert sind wir zugegebenermaßen bettelarm. Ja, also deshalb ist das Materielle im Prinzip überhaupt nicht zu verteufeln oder zu verachten oder sonst irgendwie etwas. Natürlich kann ein materieller Wert ein Leben jemandem nicht wieder lebendig machen, aber trotzdem ist es ganz wichtig, hier etwas zu beziffern. Vor allem Dingen, weil wir ja in unserer Gesellschaft dieser Materie so viel Wert beimessen, dass da natürlich auch angebracht ist, diesen Weg konsequent zu Ende zu gehen. Also ich finde das nicht unmoralisch. Ich finde es auch überhaupt nicht unethisch, ganz im Gegenteil.

Falk Al-Omary: Das ist zumindest eine Herangehensweise und wenn man dann jetzt eben sagen würde, naja, es sterben halt eher ältere Menschen, die ihren materiellen Wert schon verausgabt haben und die haben ihr Leben im Grunde hinter sich und haben es schon gelebt. Darf man derentwegen eine ganze Gesellschaft dann einschränken und darf man dadurch Wirtschaft verhindern? Ich finde die Debatte so ganz spannend, weil sie eben auch sehr philosophisch ist. Und diese Diskussion, die wurde ja geführt. Und es hieß immer, Wirtschaft ist unwichtig, wer nicht mehr atmet, wer nicht mehr lebt, der kann auch nichts mehr erwirtschaften. Wenn du pleite bist, kannst du nochmal neu anfangen. Wenn du tot bist, ist es halt definitiv vorbei. Das war ja immer so das Totschlagargument. Und ich kann dem auch folgen, also ich verstehe, dass eine Gesellschaft sich schwer damit tut, diesen materiellen Wert eines Lebens in die argumentative Waagschale zu bringen. Ich finde es aber zumindest als Denkmodell interessant, weil es eben in den USA bei Entschädigungen zumindest praktiziert wird. Daran, wie viel Schadenersatz bekommt jemand. Wie viel Verdienstausfall hat jemand. Also wir tun das bei gerichtlichen Dingen ja auch. Wenn ich dich jetzt verklage, ist auch die Frage, wie groß ist denn der Schaden, der entstanden ist und der hat natürlich durchaus mit deiner Lebenssituation zu tun. Also wir haben in ganz, ganz vielen Ecken des Lebens eine rein materialistische, monetäre, finanzielle Sichtweise auf die Dinge. Wir trauen uns aber nicht, das bei Corona zu machen und wir hätten an der Stelle sicherlich andere Entscheidungen getroffen, wenn man gesagt hätte, wie groß ist der volkswirtschaftliche Verlust für alle und für die Gesamtgesellschaft in Relation zu fünf Menschen, die möglicherweise ohnehin in absehbarer Zeit gestorben wären. Jetzt möchte ich nicht in eine menschenverachtende Diskussion reinkommen, aber Boris Palmer hat ja genau das artikuliert, indem er sagte, wir riskieren Millionen Hungertote in Afrika, um hier ein paar Menschenleben zu retten, die in einem halben Jahr sowieso gestorben wären. So, dann wurde gesagt: „Menschenverachtend, ist nicht grün, geht überhaupt nicht.“ Aber ich finde durchaus, dass wir auch da eine Art kulturelle Überheblichkeit haben, das Thema hatten wir ja auch mal. Dass wir uns hier die Ethik erlauben, ältere Menschen zu retten und dafür in ärmeren Gegenden Leute einfach opfern. Also wir entscheiden am Ende immer zu Lasten auch von anderem Leben. Und werten das.

Annette Müller: Ich empfinde das als komplett menschlich. Weil das heißt, das, was mir nah ist, ist auch mir am wertvollsten. Also das ist meiner Meinung plausibel und nachvollziehbar, was nicht bedeutet, dass ich das jetzt besser oder gut finde. Ich will das nicht werten. Ich will einfach sagen, das ist logisch, das ist klar. Du wirst bestimmt, wenn du hier jemanden retten kannst, nichts liegen lassen, um erst einmal in ein Flugzeug zu steigen und irgendwo anders jemanden zu retten. Also das ist ja etwas, was wir hier machen. Aber das ist natürlich kurzsichtig. Ich finde, richtig gut wäre es, wenn man wirklich aus einer Vogelperspektive eben diesen ganzen Auswirkungen global erst einmal betrachten würde, um dann erst Entscheidungen zu treffen. Oder vielleicht mal eine kurze Entscheidung treffen und sagen, okay, das ist jetzt erste Hilfe und wir bringen jetzt uns erst einmal hier alle in Sicherheit und gucken dann nochmal, wie es weitergeht und hat dann ein paar Tage Zeit, das zu überlegen. Aber wirklich hier etwas auf Kosten von anderen auf Biegen und Brechen durchzudrücken, das finde ich auch nicht richtig. Vor allen Dingen, wenn ich mir vorstelle, ich habe mit meiner Mama gesprochen, 94 Jahre alt, frage Mama: „Wie ist denn das bei dir, wie würdest du das jetzt sehen?“ Da sagt sie: „Ach, ich freue mich schon, wenn ich auch hundert werde, aber es ist meine Zeit, zu gehen.“ Wenn es meine Zeit zu gehen ist, dann gehe ich, egal ob ich jetzt stürze und nicht mehr aufwache oder einen Herzinfarkt bekomme. Oder auch eine Grippe bekomme oder Corona, das ist eigentlich egal. Irgendwann stirbt man. Und sie sagt eben auch, und das ist es auch, sage ich auch immer: „Ich sterbe nicht, weil ich Corona habe, sondern ich bekomme Corona, um zu sterben.“ Weil irgendwann musst du gehen. Und das ist eine ganz andere Sichtweise auf den Tod. Und wir sollten uns wirklich auch ein bisschen mehr mit dem Tod auseinandersetzen, weil das uns nämlich hilft, das Leben auch schätzen zu können. Gäbe es keinen Tod, wäre uns wahrscheinlich gar nicht bewusst, dass wir leben.

Falk Al-Omary: Definitiv. Und die Angst vor dem Tod und der Respekt vor dem Tod und unsere eigene Endlichkeit spielen ja eine sehr, sehr große Rolle, auch für unser Zeitgefühl, für unsere Lebensplanung, also wir betreiben Altersvorsorge, wir denken an die Rente. Wir denken ja in diesen Abschnitten und an die letzte Lebensphase, versuchen, uns es da möglichst noch irgendwie bequem zu machen.

Annette Müller: Wenn ich jetzt gleich drauf aufspringen darf, das ist meiner Meinung nach komplett falsch gedacht. Und du weißt ja, dass ich sehr auf Gedanken achte, oder dass ich auch immer drauf aufmerksam mache, wie wichtig es ist, dass wir in Gedanken denken, die uns nicht schaden. Wenn wir zum Beispiel denken, okay, ich muss fürs Alter vorsorgen und für meinen Lebensabend und so weiter und sofort, dann ist das wie ein Programm. Dann sagen wir, okay, es wird einen Lebensabend geben, da bin ich dann so und so schwach und so und so alt. Und dann passiert dies und jenes, weil ich es ja überall so sehe und weil es mir auch überall so beigebracht wurde. Und das ist eigentlich komplett falsch, weil ich der Überzeugung bin, dass wir wirklich alle die besten Voraussetzungen haben, uralt zu werden. Also das heißt, über hundert. Auf jeden Fall. Also unsere heutige Generation und die Generation nach mir und die alle, die müssen ihr Leben so leben, so gesund sein, dass sie bis ins hohe Alter gesund bleiben, weil sie damit rechnen müssen, dass sie hundert werden. Alle.

Falk Al-Omary: Definitiv, klar, wer früher stirbt, ist länger tot. Das gilt im Grunde mal ganz, ganz lapidar. Hindert aber mich nicht dran, vorzusorgen. Im Gegenteil, wenn ich davon ausgehe, mehr als hundert zu werden, aber mit 67 in Rente geschickt werde oder irgendwann sage, ich kann und will nicht mehr arbeiten, muss ich ja noch umso mehr zurücklegen und sparen, weil ich noch eine längere Spanne habe, wo ich von Vermögen leben muss. Das finde ich auch erst mal sehr vernünftig. Die eigene Endlichkeit kriege ich ja nicht rausgeschoben. Und wenn wir irgendwann in fünf, sechs Generationen vielleicht alle 120 werden, dann wird es trotzdem an der Endlichkeit nichts verändern. Und wir müssen akzeptieren, dass der Tod zum Leben gehört und dann bin ich wieder bei dem Begriff, wo ich eben war. Wie will ich denn leben? Wenn ich mit meiner Mutter spreche, sagt die auch: „Ich möchte nicht eingesperrt sein, ich weiß nicht wie viel Zeit mir noch bleibt.“ Dann möchte ich doch raus, dann möchte ich auch etwas erleben, dann möchte ich doch irgendwie einkaufen, dann möchte ich Freunde treffen, dann möchte ich irgendwo rausfahren. Solange ich das noch kann, mit welchem Recht nimmt mir der Staat meine Freiheit und einen Teil meines Lebens und sperrt mich ein. Und das ist was deine Mutter ja auch sagt, ich kriege Corona, um zu sterben und ich sterbe nicht an Corona. So und das ist halt eine Sichtweise, die ich von vielen alten Menschen höre. Die sagen, was ist denn das für ein Leben, wenn ich eingesperrt bin. Was ist denn das für ein unethisches Verhalten, wenn ich Menschen in Altenheimen einsperre. Also ich rette deren Leben, weil sie keinen Virus kriegen, aber sie sterben an Altersschwäche einsam und allein, in ihren letzten Atemzügen ist niemand da. Was ist das für eine Grausamkeit gegenüber dem Leben und für eine Respektlosigkeit gegenüber dem Leben? Und auf der anderen Seite sagen wir, wir haben mit Corona Leben gerettet. Das ist aus meiner Sicht moralisch unheimlich schwierig. Und das ist auch das, was ich verstehe, wenn Wolfgang Schäuble, der Bundestagspräsident, sagt, das Leben kann gegenüber anderen Grundwerten nicht absolut sein. Sondern wir haben einen Gleichrang aller Grundrechte, Freiheit, Bewegung, berufliche Entfaltung. Und diese Gleichheit haben wir aufgegeben, wenn wir gesagt haben, das existenzielle Lebensrecht steht über allen anderen Grundrechten. Das wurde aber nie abgestimmt. Und das ist eine ganz, ganz schwierige Entscheidung. Wenn ich Leben auf dieses reine Existieren, oder ich gehe noch weiter, Vegetieren, reduziere. Und das ist menschenverachtend aus meiner Sicht.

Annette Müller: Also, wenn du es tatsächlich auf das Ein- und Ausatmen reduzierst. Also was er gesagt hat ist, die Würde spielt eine Rolle. Und das finde ich eben ganz wichtig. Die Lebenswürde, wenn wir zum Beispiel sagen, nicht nur Leben, lebendig sein erleben, Lebensfreude, sondern wenn wir vielleicht sagen würden, das ist eine Lebenswürde. Vielleicht würde uns das helfen, diese zwei Dinge zu unterscheiden und könnten dann auch weisere Entscheidungen treffen.

Falk Al-Omary: Wir bräuchten mehr Mut, auch Leben, ja, Entscheidungen bezüglich des Lebens zu treffen und möglicherweise auch Leben zu beenden. Wenn ich den Begriff Sterbehilfe sehe beispielsweise, ist es nicht mein Recht, in Würde, um das dann so zu nennen, zu sterben, und ist es nicht meine Freiheit, mein Leben zu beenden? Muss ich denn mit Schlauch im Mund sterben, muss ich denn drei Jahre im Koma liegen und an Maschinen angeschlossen sein? Warum darf ich das nicht frei entscheiden? Da hat ja das Bundesverfassungsgericht auch klar gesagt, die Selbstbestimmung des Patienten, Selbstbestimmung im Alter, wiegt höher. Das ist Selbstbestimmung. Und da finde ich, sind wir im Grunde auf einem guten Weg. Wir werden aber auf dieser freien Entscheidung, wie ich Leben definiere, wie ich Leben beenden möchte, wann mein Leben für mich nicht mehr lebenswert ist, deutlich zurückgeworfen durch die Politik von Corona. Dass andere entscheiden, wie wir zu leben haben und wie Leben auch zu retten ist. Ich finde das ganz gefährlich im Hinblick auch auf das Thema Palliativmedizin, auf das Thema Sterbehilfe, auf das Thema Sterbebegleitung. Auf das ganze philosophische Thema der eigenen Endlichkeit. Das hat unheimlich viele Facetten, wo der Staat auch philosophische, ethische und gesellschaftliche Grenzen jetzt verschiebt.

Annette Müller: Da bin ich ganz deiner Meinung. Das ist schon so. Also im Moment sind ja ganz, ganz viele Freiheiten und Rechte einfach ausgesetzt. Ja, also es ist so, um da ganz persönlich zu sprechen, ich habe das große Glück, dass meine Mutter zufällig bei mir zuhause zu Besuch war, als dieser Shutdown oder Lockdown gewesen ist. Und dann habe ich gesagt: „Jetzt bleibst du da, jetzt gehst du nicht wieder in dein Zuhause.“ Und sie ist seitdem da und es war wunderbar, weil ich hätte sie ja noch nicht mal besuchen dürfen. Das ist doch unglaublich, oder?

Falk Al-Omary: Ja, das ist es eben aus meiner Sicht auch. Also früher als Kind wurden wir mit Liebesentzug bestraft. So und im Prinzip ist diese Art, dieses Kontaktverbot, deine Eltern nicht besuchen dürfen, eine Art Liebesentzug. Das ist eigentlich eine Art seelische Folter. Die wir in Kauf nehmen unter dem Aspekt, damit retten wir andere Leben. Wir zerstören aber auch Leben. Wir nehmen eine Art Folter in Kauf. Also dieses Abwägen ist ganz, ganz, ganz schwierig. Und das hat mir in der politischen Debatte auch gefehlt. Dieses ultimative existenzielle Lebensrettungsprogramm der Politik, ohne eine ethische Debatte. Ohne eine Folgendebatte, finde ich hochgradig schwierig. Und ich habe da auch einen Aufschrei der Kulturschaffenden und der Ethiker und der Moralvertreter und der Kirchen ehrlich gesagt vermisst. Da hat mir eine zu wenig intellektuelle Debatte stattgefunden. Wir haben sofort gesagt, das ist richtig, das muss so sein, wir retten Leben. Aber das tun wir eben nicht. Genauso wenig, wie Flüchtlinge im Mittelmeer. Also zurzeit gibt es ja auch Berichte darüber, dass die Mission Sophia, die Schiffe, die Leben retten sollen und Bootsflüchtlinge aufnehmen sollen, abgezogen werden in andere Regionen des Mittelmeers, damit die Schiffe nicht ankommen. Also wenn wir anfangen, jeden Menschen als potenziellen Virenträger zu sehen und diese Menschen sterben lassen, damit sie ja nicht zu uns kommen, entscheiden wir auch über Leben und Tod. Wir sind inkonsequent. Die Triage findet statt, nur nicht in der deutschen Intensivstation. Und da wird auch Leben bemessen. Und diese Debatte ist verlogen. Sie ist nicht zu Ende gedacht, sie ist aus meiner Sicht nicht dem Lebensbegriff dieser Wirklichkeit entsprechend. Und ich finde, es ist unterkomplex.

Annette Müller: Es ist meiner Meinung nach menschenverachtend. Es ist das Gegenteil von würdig. Es ist verachtend. Ich persönlich habe damit überhaupt keine Schwierigkeiten. Ich sehe mich nicht als Virenschleuder oder Virenträger oder sonst irgendetwas. Ich könnte mich nie damit identifizieren: „Upps, ich habe den Virus, ich könnte den Virus haben, ich könnte so und so viele anstecken.“ Das ist mir unglaublich fremd. Aber so viele Leute nehmen das tatsächlich an. Sie sehen sich selbst als ´oh, ich könnte Virenschleuder sein`. Und sie sagen tatsächlich: „Ich bleibe für dich zuhause. Ich schütze dein Leben, weil ich zuhause bleibe. Und ich schütze dein Leben, weil ich eine Maske trage.“ Wir müssen das Ganze wieder in den Kontext setzen. Wäre es tatsächlich ein so schlimmer Killervirus, wäre das auch richtig. Aber wir haben ja gesehen und wir sehen es jeden Tag, so ist es nicht, wir haben es von Anfang an gesehen, dass es nicht so war.

Falk Al-Omary: Das ist richtig.

Annette Müller: Und das ist das Wichtige. Ansonsten könnte man wirklich sagen, ja, natürlich, wir tun alles, um uns und alle anderen auch zu retten. Dann hätte man noch viel mehr tun müssen.

Falk Al-Omary: Aber es ist eine wahnsinnige Abwertung. Also wir machen uns, indem wir sagen, wir sind eine potenzielle Gefahr für andere, weil wir Viren übertragen könnten, machen wir uns selbst zum Objekt und lassen auch als Objekt durch staatliche Gewalt über uns bestimmen. Das ist das, was ja im Grunde passiert ist. Und das ist ein unglaublicher Vorgang in der Demokratie, dass man sich das eben gefallen lässt und das eben erlaubt hat, sich selbst zum Objekt zu degradieren und auf die Funktion, ein Spreader zu sein, dann reduzieren zu lassen. Und das hat mit Leben und mit Lebensweisheit und mit Lebensentfaltung so gut wie gar nichts mehr zu tun.

Annette Müller: Gar nichts, genaues Gegenteil, es ist sehr destruktiv. Und es ist ein sehr trauriges, destruktives, vernichtendes Menschenbild. Das heißt also, wir Menschen haben ja sowieso schon die Schwierigkeiten mit Selbstbewusstsein. Wir Menschen sehen uns sowieso schon als die schlimmsten Raubtiere auf dem ganzen Planeten. Also wir geben uns ja gegenseitig den Stempel, dass wir die schlimmste Spezies in der ganzen Existenz dieses Planeten je gewesen sind und wir sind ein Krebsgeschwür, eigentlich müssten wir weg. Das ist ja dieses Bild, das wir überall vorgesetzt bekommen, unterschwellig. Zum Beispiel auch mit dem Klimawandel, mit der Umweltverschmutzung, mit den ganzen Kriegen, mit der schmutzigen Politik, mit allem. Also auch mit dem ganzen System. Und da trifft das natürlich nochmal in eine Kerbe von Menschen, die bislang noch so eine Art Unschuld getragen haben in sich. So eine unschuldige, kindliche Menschlichkeit. Die sagen jetzt: „Hilfe, ich bin Virenträger, ich könnte Virenträger sein.“ Und das kommt noch dazu. Ich finde das ganz schrecklich. Ich finde, das könnte uns in unserer ganzen Entwicklung, in unserer ganzen Menschenwürde und in dem Versuch, eine bessere Welt zu schaffen und bessere Menschen zu werden, wirklich zurückwerfen.

Falk Al-Omary: Es passiert ja auch aktuell. Das ist ja genau das, was ja passiert. Dass wir da zurückgeworfen werden auf uns selbst. Und wie gesagt, ich sage das ja immer wieder, auf diesen existenzialistischen Begriff von Leben, der aber unser Leben gar nicht ausmacht. Wenn wir jemanden fragen, wie ist denn dein Leben so oder wie geht es dir, dann antworten wir nicht, oh Gott, ich atme. Sondern mir geht es gut und ich habe einen Job und ich habe einen neuen Freund und ich bin jetzt gerade umgezogen und ich habe jetzt coole neue Freunde kennengelernt. Das ist ja das, was uns ausmacht. Wenn wir unserer Gesellschaft beraubt werden, werden wir ein Stück weit auch unserer Identität beraubt. Das ist ein weiterer Aspekt dieser Degradierung als Objekt. Und ich finde es, wie gesagt, nach wie vor menschenunwürdig. Und es ist eben auch, was den Wert eines Menschen angeht, eigentlich eher eine sehr, sehr schlechte Entscheidung, so vorzugehen und so repressiv Selbstentfaltung, Selbstbestimmung, Mobilität – auch das ist ja ein Element von Leben – einzuschränken, um anderen Menschen das existenzielle Leben zu retten, was auch ein legitimes Ziel ist. Aber wir müssen eben auch sehen, dass Leben deutlich, deutlich mehr ist als das und Lebenswirklichkeit, die wir erfahren, ist eine komplexere. Wir sind ja auch nicht gefragt worden. Ich könnte mir vorstellen, dass viele Leute sagen würden, ich möchte nicht geschützt werden, ich möchte nicht, dass mein Leben verlängert wird, ich möchte nicht an die Beatmungsmaschine. Ich möchte gerne palliativ behandelt werden. Ich möchte selbstbestimmt meinen Lebensabend verbringen. Und all das wird uns im Grunde beraubt.

Annette Müller: Also, wenn ich mir vorstelle, ein alter Mensch zu sein, der jetzt in seinem Heim ist und wenn er überhaupt Besuch empfangen darf, dass er dann sozusagen wie im Gefängnis vor dieser Scheibe sitzt und man sich da durch die Scheibe unterhält, man darf sich nicht berühren und so. Also ich finde, das ist der Wahnsinn, so etwas hat ja keiner verdient. Also mit was haben wir das dann verdient, diese Strafe? Also da hat man es ja gut, wenn man es gar nicht so mitkriegt. Also, ich denke mal, wenn man sich dann nicht mehr bewusst ist, dann kann man auch dieses Leid nicht so bewusst empfinden und das ist dann vielleicht sogar eine Gnade, dass man dann nicht mehr so wach ist. Es ist dramatisch. Also ich finde es unglaublich dramatisch.

Falk Al-Omary: Nee, das ist definitiv so. Aber welchen Wert hat denn dann jetzt Leben? Also wir haben gesagt, es ist legitim, dass auch durchaus auf einer materialistischen Ebene zumindest mal zu betrachten und durchzurechnen. Wir haben die Diskussion auch im Bereich künstliche Intelligenz. Wenn ein selbstfahrendes Auto entscheidet, ich muss jetzt nach links abbiegen, dann töte ich eine alte Frau, ich muss nach rechts abbiegen, dann töte ich ein Kind, oder ich fahre geradeaus, dann töte ich den Fahrer, weil ich gegen eine Wand fahre. Wir stehen in anderen Bereichen hier auch vor der Frage, wie wägen wir denn ab und es ist ethisch hoch komplex und sehr, sehr schwierig. Aber auch da muss es Entscheidungen geben. Und auch dieser Abwägungsprozess hat ja bei Corona nicht stattgefunden. Aber es muss aus meiner Sicht halt erlaubt sein, auf dieser Ebene über Leben nachzudenken. Genauso muss es erlaubt sein, dann zu sagen, wir beurteilen bei der Triage nach den medizinischen Überlebenschancen. Aber ich fände es im Grunde gut, wenn wir Parameter hätten, nach denen wir entscheiden könnten und dürften. Wenn ich eine Lebensversicherung abschließe, dann wird ja auch geguckt, wie alt wird der Typ wohl werden, das hängt ja vom Geburtsdatum ab und wenn der ein bisschen Übergewicht hat, dann ziehen wir bisschen was ab, dann muss der Risikozuschläge zahlen. Also wir haben ja an jeder Ecke eine monetär-materialistische Bewertung von Leben und Lebenserwartung. Kassenbeiträge, Überlebensversicherung. Wir haben es im Gesundheitssektor an ganz, ganz vielen Stellen: Mache ich eine Ganzbehandlung, mache ich eine Ganzbehandlung nicht mehr. Ab wann entscheide ich als Familie, mein Familienmitglied vielleicht nicht mehr an Maschinen anzuschließen. Also die Entscheidung über Leben und Tod haben wir häufig. Und wäre es nicht eine Chance, jetzt einen Kriterienkatalog zu entwickeln, durch Ethiker, durch Moralethiker, durch Historiker, durch Soziologen. Einen solchen Katalog zu entwickeln, nach dem irgendwie entschieden werden kann und damit auch das Leben aufzuwerten. Also man wird mir jetzt ja vorwerfen, das sei menschenverachtend, das dürfte man gar nicht tun. Ich glaube, dass wir den Wert von Leben dadurch sogar aufwerten können, weil wir, wenn wir Leben weiter fassen vom Begriff her, viel mehr wertschätzen, was denn Leben alles ist. Und da haben wir ja viel Erfahrung gemacht. Wir genießen ja jetzt diese sogenannten Lockerungen. Wir denken, es kehrt ein Stück weit Leben zurück. Leben auch im Sinne von Alltag. Der ist uns ja wahnsinnig wichtig. An dem hängen wir ja irgendwo. Also ich könnte mir heute vorstellen, dass man auch eine Debatte führt, wie wertet man den Begriff Leben auf. Und wie wertet man generell Leben beim Menschen auf. Inhaltlich. Spirituell. Finanziell. Diese Lebensdebatte fehlt mir ein Stück.

Annette Müller: Ich finde, man könnte das ganz gut an Lebensfreude messen. Lebensfreude, das ist ja ganz individuell. Um aber diese generelle Diskussion dann nochmal aufzugreifen. Ich möchte wieder von meiner alten Mutter erzählen, die mit 80 gestürzt ist, operiert wurde und als sie dann aufgestanden war, konnte sie dieses Bein nicht richtig benutzen und man hat dann festgestellt, das wurde nicht richtig operiert. Das Krankenhaus hat dann gesagt: „Ja, wir hätten nie gedacht, dass die nochmal aufsteht.“ Das heißt, dann haben wir gesagt, einen alten Menschen operiert man nicht mehr wie einen jungen Menschen. Weil man davon ausgeht, dass nach einem solchen Sturz der alte Mensch überhaupt nicht mehr aufsteht, sondern dass der bettlägerig ist. Und das ist natürlich schon eine Katastrophe. Wer sagt denn, dass mit 80 das Leben nicht mehr lebenswert ist? Wer sagt denn, dass mit 80 jemand nicht mehr schaffend sein kann? Meine Mutter ist jetzt 94 geworden, die ist topfit. Die hat noch ein paar andere Wehwehchen dazu bekommen, aber im Grunde genommen ist sie super. Sie hat ihr erstes Buch gerade geschrieben. Wer schreibt denn mit nach 90 noch ein Buch?

Falk Al-Omary: Es gibt sehr viele. Also deswegen ist es auch keine Altersfrage. Also dieser Gedanke, wir müssen die Alten schützen, wir sperren die Alten ein, dann können die Jungen weiter leben wie bisher, halte ich auch für menschenverachtend. Weil, ich will noch einen anderen Aspekt mit reinbringen. Weil du das gerade angesagt hast, der Mann steht gleich nicht mehr auf. Der gleiche Jens Spahn, der heute sagt, die oberste Maxime des Staates ist, das Leben zu retten, hat als Funktionär der Jungen Union gesagt, es lohnt sich doch nicht mehr, einem 80-Jährigen ein Hüftgelenk einzupflanzen. Das ist jetzt ein Sinneswandel, dass der gleiche Jens Spahn erst sagt, mit 80 ist es sowieso vorbei, der braucht kein Hüftgelenk mehr, was soll denn das, Generationenvertrag kündigen wir auf, kostet nur Geld. Und auf der anderen Seite sagt dieser Jens Spahn jetzt, Leben ist die oberste Maxime. Ganz erstaunlich, was da für ein Sinneswandel stattfindet, wenn die Rollen sich wechseln. Und auch da finde ich eine gewisse Verachtung des Begriffes Lebens wieder. Das hat damals zurecht einen Shitstorm bekommen.

Annette Müller: Jetzt auch genügend Shitstorms. Nicht nur damals. Also ich denke mal, die Shitstorms werden auch nicht aufhören. Und ich gehöre mit dazu (lacht).

Falk Al-Omary: Ja, es ist schon viel, viel Wut da und die wird sich auch entladen und Jens Spahn hat ja auch gesagt, wir werden uns nach dieser Krise viel verzeihen müssen, und ich glaube auch, dass er da Recht hat. Aber wie eben ist es schon die Frage, wie wertvoll ist Leben. Mein Leben ist nur dann lebenswert, wenn ich mich eben auch entfalten kann. Ich bin eben kein Baum, der durch ein bisschen Bestäubung und ein bisschen Wachstum und die Blätter Richtung Sonne ausstrecken dann schon zufrieden ist und froh ist, wenn er genügend Wasser bekommt. Dafür ist Leben insgesamt zu komplex und biochemisch, aber auch gesellschaftlich und sozial.

Annette Müller: Also ich persönlich habe das ja selbst erlebt durch diesen schweren Autounfall. Wie es mir eben danach ging mit der Rückenmarksverletzung. Und diese Schmerzen, die ich hatte, und das degenerative, das war so schlimm, dass ich jeden verstehen kann, der in so einer Situation beschließt, aus dem Leben zu scheiden. Und ich habe letztens ein Gespräch darüber geführt und habe gesagt, definitiv sollte derjenige auch die Erlaubnis haben, das zu tun. Weil in dem Fall, wenn da wirklich ausschließlich Schmerz und keine Hoffnung existiert, warum sollte dieser Körper noch hierbleiben, wenn da überhaupt gar nichts mehr geht? Wenn es wirklich völlig aussichtslos ist.

Falk Al-Omary: Ja.

Annette Müller: Und ich finde das definitiv legitim, dass man dann eben auch diese Entscheidung treffen darf und trifft und kann. Und ich bin mir ziemlich sicher, wenn wir Menschen, wir haben ja gesehen, unser Bewusstsein, unsere Intelligenz, unsere Fähigkeiten, die werden ja immer mehr, immer mehr, immer mehr. Auch wenn es okay scheint, wir haben jetzt einen Stillstand oder so, ich bin mir sicher, dass sich das nicht aufhalten lässt. Und ich bin mir auch ziemlich sicher, dass wir dann aus dieser Fähigkeit aus dem Körper zu gehen, also zu scheiden, das vielleicht überhaupt gar nicht irgendwie so erledigen können. Dass wir Hand an uns legen müssen, das heißt, dass wir uns selbst umbringen müssen, diesem Körper sozusagen das Leben beenden, sondern dass wir einfach sagen können, okay, jetzt ist die Zeit gekommen, ich lege mich jetzt dahin und morgen früh wache ich nicht mehr auf. Also ich meine wir erleben ja heute schon, dass ältere Menschen sagen, so, meine Zeit ist gekommen, ich verabschiede mich von euch und ich gehe. Und zwei Tage später sind sie dann weg. Es gibt auch diese Art aus dem Leben zu scheiden, indem man aufhört zu essen und zu trinken. Das ist auch eine neue Methode, die sozusagen jetzt ganz modern wird und auch ganz beliebt wird. Zu sagen, okay, ich gehe jetzt und man kann dann der Familie Bescheid sagen, das will ich jetzt machen, ich höre jetzt auf, werde begleitet und man darf das dann auch. Das ist eben auch ganz wichtig. Ich darf dann meine Mutter, wenn sie so weit wäre, oder meinen Vater oder Opa oder Onkel oder sonst irgendwas, verhungern lassen, weil der das so will.

Falk Al-Omary: Man nannte ja früher die Lungenentzündung – deswegen finde ich es interessant, dass man das jetzt bei COVID-19 so problematisch sieht – den sanften Engel der Alten. Menschen haben eine Lungenentzündung bekommen in einem gewissen Alter und sind dann an dieser Lungenentzündung gestorben und es war ein relativ friedlicher Tod, der ja eine Gnade ist. Also unsere größte Sorge beim Tod. Also tot sein kann sich ja niemand vorstellen, aber sterben, das kann man sich vorstellen, weil es mit Leid und Schmerzen verbunden ist. Man wünscht sich im Grunde ja nichts mehr, als friedlich einzuschlafen. Möglicherweise dann eben auch palliativ behandelt zu werden, schmerzfrei zu sein und sanft hinüberzugleiten. Es ist eine große Gnade und diese Gnade nehmen wir älteren Menschen, indem wir sie zwangsbeatmen und damit nehmen wir ihnen auch die Würde. Und der Tod kann eben auch bei Schwerstkranken eine Gnade sein. Du hast eben gesagt, man darf nur selbstbestimmt aus dem Leben scheiden. Ich gehe noch weiter. Ich möchte bitte auch jemanden haben, der bei mir sitzt, wenn ich tot bin. Und ich möchte vielleicht auch jemanden bitten, wenn ich es selbst nicht mehr kann, wenn er meinen Wunsch denn kennt zu sterben, mir dabei zu helfen. Ich bin auch was das Thema Sterbehilfe anbelangt sehr, sehr tolerant. Und all das lassen wir eben jetzt im Moment nicht zu. Diese Lebensdebatte, das Thema Lebenswürde, all das findet keine Berücksichtigung, weil wir, und das wiederhole ich gerne nochmal, einen falschen oder sehr einseitigen Lebensbegriff zum Maßstab von Entscheidungen machen. Und am Ende nehmen wir dem Leben viel mehr Wert, als das Leben im Grunde hätte. Selbst wenn man hergehen würde und würde es materialistisch betrachten. Eigentlich entwertet die Politik und entwertet die Gesellschaft durch die Entscheidungen jetzt Leben viel stärker als es eine Versicherungsgesellschaft tut, die Entschädigungszahlungen zu leisten hat. Wir geben sogar mehr Würde rein, wenn wir uns endlich erlauben, Leben in irgendeiner Art und Weise auch zu taxieren. Es verbietet uns unsere Religion, die christliche, jüdische Tradition und unsere gesellschaftliche Kollektivethik. Ich verstehe, dass man davor großen Respekt hat. Ich würde mir eine offene Debatte wünschen in der gesamten Gesellschaft über den Wert von Leben und über die Option, viel, viel selbstbestimmter auch über das Lebensende zu entscheiden. Und diese Debatte hoffe ich, öffnet Corona. Und ich finde auch, dass Wolfgang Schäuble und auch Boris Palmer diese Debatte ein Stück weit geöffnet hat. Wir haben die Chance vertan, das weiter zu diskutieren, weil wir sofort den Stempel ´das ist menschenverachtend` darauf gepackt haben. Wir lassen viel zu wenig Diskussion über philosophische, ethische und moralische Fragen der Gesellschaft zu. Das bedaure ich ein Stück weit. Wir haben zu wenig Tiefe in der Diskussion.

Annette Müller: Die Frage ist, will man so eine Diskussion überhaupt führen? Ich glaube überhaupt nicht, dass so eine Diskussion gewünscht ist. Ich glaube, dieser Weg jetzt, der ist einfach. Das ist praktisch. Wir machen das so und damit hat sich das. Also Politik ist sowieso ziemlich krass. Sozusagen.

Falk Al-Omary: Vielleicht gibt es aber auch einfach das Tabu. Also mal über Tod zu reden, ist natürlich sehr, sehr schwierig. Vielleicht gibt es auch ein gesellschaftliches Tabu oder die Bereitschaft nicht. Oder man wollte jetzt – es wird ja viel Panik gemacht mit Corona -, aber wenn man jetzt noch Debatten über den Wert von Leben geführt hätte, wäre vielleicht auch die Gesellschaft überfordert. Also wir halten viele Diskussionen als Gesellschaft nur noch ganz, ganz schwer aus. Und wir brauchen solche Bilder wie in Italien, wo dann die Militärtransporter die Särge abholen. Diese Bilder schockieren uns derart, dass wir schon in allem Respekt und aller Vorsicht sagen, um Gottes Willen, bevor uns das passiert, treten wir zurück. Aber es wird dann eben auch nicht mehr hinterfragt. Vielleicht auch aus eigener Angst vor dem Tod. Und da müssten wir – und es ist Aufgabe von Philosophie und auch Alltag von Menschen, die spirituell sind – eine Aufgabe darin sehen, das zu thematisieren. Und ich finde das noch viel, viel spannender als auf die Straße zu gehen und gegen die Maßnahmen zu demonstrieren. Ich finde eine akademische, intellektuelle, spirituelle, humanistische Debatte über Leben und Sterben existenziell wichtig.

Annette Müller: Ja, das kann man dann machen, wenn das alles wieder in Ordnung ist, dann hat man Zeit dazu. Aber wir brauchen erst einmal das Fundament dazu, dass man überhaupt so eine Debatte führen kann. Und das haben wir um Moment nicht, deshalb heißt es noch immer auf der Straße, bitte Lockdown jetzt sofort beenden, damit nicht noch mehr Leute sterben. Ja, wenn sie tot sind, können sie auch nicht mehr diskutieren. Also das ist meine Meinung dazu.

Falk Al-Omary: Da schließt sich ja der Kreis. Gib mir erst mal mein Leben zurück.

Annette Müller: Gib mir mein Leben zurück und dann können wir über den Tod sprechen. Überlegen wir uns das mal alle, lassen das mal wirken. Weil das etwas ist, das uns alle betrifft. Das Leben endet unweigerlich mit dem Tod. Da können wir nichts dran ändern. Das einzige, was wir machen können aus Angst vorm Tod, ist uns umzubringen. Ja, das geht auch, das tuen ja manche. Aus Angst vor Corona.

Falk Al-Omary: Ich glaube, es würden sich mehr umbringen wegen der Folgen der Corona-Maßnahmen.

Annette Müller: Ja, das meinte ich damit wirklich. Ja, also nicht wegen dem Virus, sondern wegen den Auswirkungen der Maßnahmen. Und es ist ganz gut, sich wirklich zu überlegen im Angesicht des Todes, was ist mein Leben wert. Denn nur der Tod erlaubt uns auch wirklich, das Leben zu schätzen. Weil sonst würden wir es gar nicht schätzen.

Falk Al-Omary: Würden wir unendlich leben, würden wir auch das Leben entwerten. Diese Zeitspanne, die wir ja haben. Und das ist eben das Maß aller spirituellen, aller religiösen Dinge. Ja.

Annette Müller: Definitiv. Ja, schön. Das war jetzt total spannend. Wir freuen uns auf das nächste Mal, vielen Dank fürs Dabeisein. Ich hoffe, es hat Ihnen gefallen und dann bis zum nächsten Mal. Tschau.