Episode #22 Krise heißt Entscheidung – doch was wurde entschieden und für wen? Teil 2

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Eine Krise ist immer auch ein Wendepunkt. Krise heißt Entscheidung. In der Corona-Krise wurden viele Entscheidungen getroffen, bei denen der Einzelne kein Mitspracherecht hatte. Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen ist nach wie vor Thema zahlreicher Diskussionen. Ist es richtig, dass in Zeiten der Pandemie jeder einzelne in seiner Entscheidung beschnitten wird, um andere zu schützen?

„Gedanken zur Menschlichkeit“ ist ein philosophischer Podcast mit Annette Müller. Der Podcast möchte bewusst Kontroversen schaffen und neuen Gedanken abseits des Mainstream Raum geben.

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Hier können Sie diese Podcastfolge nachlesen:

Annette Müller: Krise heißt Entscheidung. Es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Ich habe das Gefühl, dass jeder Einzelne von uns jetzt in einer Situation ist, wo er Verantwortung übernehmen muss. Also gezwungen ist, sich zu entscheiden, Verantwortung zu übernehmen. Und zwar nicht nur für sich. Sondern dass jede Entscheidung, die jeder trifft, im Moment alle anderen auch mit betrifft. Also das ist auch etwas, was ich in dieser Situation unglaublich spüre und beobachten kann, wie interdependent wir alle sind. Dass die Entscheidung meines Nachbarn, zum Beispiel bei der Polizei anzurufen, weil er ein fremdes Fahrzeug vor meiner Haustür sieht, eine Auswirkung auf mein Leben hat. Also ich meine, das ist mir nicht passiert. Aber ich habe es oft genug gehört.

Al-Omary: Das war aber ja schon vorher so. Also dass ich keine Entscheidung für mich alleine treffen kann, sondern dass jede meiner Entscheidungen über fünf Ecken möglicherweise das Leben anderer tangiert. Das ist erstmal nicht neu.

Müller: Richtig. Aber die Frage ist, war das den Einzelnen so bewusst? Ich glaube nicht. Ich glaube, dass wir hier durch diese wirklich sehr rohe, also ich empfinde das eine rohe Situation, dass wir dadurch also ein ganz großes Stück Authentizität und Echtheit zurückgewinnen. Und dass viele, viele Dinge, die vorher wichtig gewesen sind, jetzt nicht mehr so wichtig sind. Sondern dass eben das im Vordergrund steht, was ich Atemluft nenne. Also Freiheit und atmen können. Das ist für mich sehr eng zusammen. Also dieses Aufgeben von Freiheit im Moment. Oder dass mir die Entscheidung abgenommen wurde oder für mich entschieden wurde, dass ich diese Freiheit nicht mehr habe, ist so, dass mir ein ganz großes Stück Sauerstoff fehlt. Sauerstoff brauche ich ja, um zu leben. Um zu agieren. Um überhaupt handlungsfähig zu sein.

Al-Omary: Also klar. Man war abgewürgt. Man war abgeschaltet. Und ich erinnere mich dran, als die Restaurants wieder öffneten. Ich war relativ früh wieder in Restaurants essen. A, weil ich sowieso viel essen gehe. B, weil es natürlich auch schön ist, die heimische Wirtschaft zu unterstützen. Ich habe selten das Essengehen so genossen. Im Sinne von, es ist ein Stück Freiheit, die du wieder hast. Es ist ein Stück weit mehr atmen können. Es ist ein Stück weit Normalität. Also es ist schon so, dass ich diese Freiheit, die mir wiedergegeben worden ist, wieder zu schätzen wusste. Diese Selbstverständlichkeiten, ich kann mich bewegen, ich kann jeden treffen, ich kann meine Meinung frei äußern, das wurde mir genommen. Und jetzt habe ich ein höheres Bewusstsein dafür. Das wäre der positive Aspekt. Aber es hat natürlich auch negative Facetten.

Müller: Was mich sehr betroffen gemacht hat, war so ein Moment, wo mir jemand eine Petition hingelegt gesagt hat: „Komm, unterschreibe da.“ Eine Petition. Das war irgendwie: „Oh. Oh Gott.“ Wen soll ich da jetzt anbeten und bitten, mir die Erlaubnis zu geben, dass das und das doch bitte geschehen mag?

Al-Omary: Ja, das ist natürlich auch ein Thema.

Müller: Das war das. Und wenn mir dann jetzt so was wiedergegeben wird, was eigentlich mein Grundrecht ist, muss ich dann dafür dankbar sein? Und muss sagen: „Ja, vielen Dank dafür, dass ich jetzt essen gehen darf?“

Al-Omary: Ja, das war mein zweiter Gedanke eben. Wo ich mir sage, also auf der einen Seite freue ich mich, dass es die Freiheit wieder gibt. Und sie wurde mir wiedergegeben. Und ich kann wieder essen gehen. Und ja, mein Leben ist ein Stück weit wieder da. Aber die Frage ist eben, und das ist in der Tat der nächste Gedanke, muss ich dafür dankbar sein? Oder muss ich nicht wütend sein, dass man mir die Freiheit vorher genommen und beraubt hat? Das ist ja auch der Begriff der Lockerung. Das hat ja schon so diese Semantik einer uns gewährten Gnade. Aber es muss eben nicht legitimiert werden, dass der Normalzustand herrscht. Sondern es musste die Einschränkung legitimiert werden.

Müller: Ganz genau. Das wollte ich grade sagen.

Al-Omary: Und das ist in weiten Teilen vorher aus meiner Sicht nicht in dem Maße passiert. Zumindest für jemand so Freiheitsliebenden wie mich nicht hinreichend. Wir reden heute ja viel über das Thema Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen. Ich könnte mir vorstellen, dass man in Erkenntnis der Lage in zwei, drei Jahren sagt: „Das war unverhältnismäßig.“ Und dass dann möglicherweise auch der ein oder andere noch zur Rechenschaft gezogen wird. Jens Spahn sagt ja: „Wir werden uns alle danach viel verzeihen müssen.“ Da hat er möglicherweise Recht. Ich glaube aber nicht, dass jeder bereit ist, zu verzeihen. Und im Moment bin ich auch in einer Stimmung, wo ich sage, ich bin überhaupt nicht bereit, zu verzeihen. Aus meiner Sicht müssten da einige Leute dann auch juristisch belangt werden. Weil sie eben triagiert haben. Die Unternehmer. Die Freigeister. Die Verantwortung übernommen haben für ihr Leben. Weil die sind diejenigen, die am meisten ausgebremst worden sind. Also so meine aktuelle Stimmung. Ich respektiere aber auch die andere Meinung. Aber ich habe eine sehr, sehr klare Position. Und sage auch, ich möchte mit den anderen ehrlich gesagt auch gar nicht mehr so wahnsinnig viel zu tun haben. Weil grade für mein Unternehmen ist es wichtig, mit freiheitsliebenden, freiheitsdenkenden Menschen zusammenzuarbeiten, die sich irgendwie entwickeln wollen. Entwicklung ist elementarer Bestandteil der Definition von Leben. Wer bereit ist, sich ein Stück Leben nehmen zu lassen, mit dem möchte ich im Grunde gar nichts zu tun haben. Wie oft habe ich gehört: „Du bist bereit, Menschen sterben zu lassen durch deine Haltung. Das ist menschenverachtend.“ Und ich sage, nein. Menschenverachtend ist mindestens genauso, wenn nicht noch mehr, die Triage ganzer Bevölkerungsgruppen, ganzer Unternehmenszweige, ganzer Branchen. Und die Entscheidung gegen Menschen und gegen Leben. Wer sagt denn, dass der Corona-Patient mehr Wert ist als der Krebs-Patient? Wer sagt denn, dass die Mutter mit Kind, die jetzt zu Hause bleiben muss, weniger wert ist als die Managerin, die irgendwo arbeitet? Das alles ist nicht hinreichend erklärt worden. Und man hat triagiert. Nicht unterschieden nach Leben oder Tod. Aber man hat nach wirtschaftlich existentiellem Leben oder Tod entschieden. Und das ist etwas, wo ich sage, das kann ich von einem Staat genauso wenig akzeptieren wie diese permanente Bevormundung, die wir erlebt haben in der Vergangenheit. Ich weiß, dass das eine sehr harte und sehr kontroverse Position ist. Aber das ist mein Empfinden.

Müller: Welche Vergangenheit meinst du jetzt?

Al-Omary: Naja, wir haben ja oft schon Debatten geführt über das Thema Steuererhöhung. Über das Thema Umverteilung. Über das Thema Öko-Diktatur. Wir hatten ja schon mehrere solche Gespräche. Wir hatten ja mehrere solche kontroversen Themen. Und natürlich habe ich da immer auch gesagt, naja, im Grunde wäre es besser, der Staat hielte sich raus. Und das sehe ich hier eben genauso. Also Krankwerden ist normales Lebensrisiko. Ich brauche den Staat nicht, um mich vor einer Krankheit zu schützen. Ich möchte da selbst entscheiden können. Das ist da meine klare Haltung. Ich möchte informiert werden. Also einfach verschweigen ist keine Option. Wenn ich informiert bin, kann ich entscheiden. Ich bleibe zu Hause. Oder ich gehe raus. Ich führe mein Leben weiter. Oder ich lebe in Angst. Weil die Entscheidung habe ich nicht treffen dürfen.

Müller: Diese Entscheidung hast du aus einem bestimmten Grund nicht treffen dürfen. Wir müssen uns da mal wieder zurück erinnern. Weil das ja jetzt wieder vergessen wurde. Du darfst ja krank werden. Das ist allerdings, sobald du krank bist oder diesen Virus in dir trägst, ohne dass du es überhaupt weißt, weil du ja davon gar nichts merkst, hast du schon 20 Leute umgebracht. Sozusagen. Allein dadurch, dass du nach draußen gegangen bist. Das ist ja das, was der Grund war, warum wir alle zu Hause bleiben mussten.

Al-Omary: Und ich sage eben, diese 20 hätten auch entscheiden können. Im Sinne von, naja, wenn ich rausgehe, könnte ich auf einen Infizierten treffen. Davor habe ich Angst. Also bleibe ich zu Hause. Also werde ich wiederum in meiner Entscheidung beschnitten, um 20 andere zu schützen. Und ich möchte aber, dass jeder eigenständig entscheiden kann. Und dass jeder das Lebensrisiko eingeht. Und ich sage mal, Krankwerden und in letzter Konsequenz auch Sterben ist Teil des Lebens.

Müller: Ja. Jetzt habe ich noch eine andere Frage. Angenommen, die Politik hätte das so gemacht. Das finde ich einen total spannenden Gedanken. Den hatte ich bis jetzt noch nicht. Wir sagen, okay, jeder ist ein potenzieller Virusträger. Und wenn er den Virus in sich trägt und davon nichts merkt, tötet er 20 Leute. Sagen wir das jetzt einfach mal, okay? Ich gehe also raus. Und diese 20 Leute, die mir begegnen, begegnen mir eigenverantwortlich. Weil sie genau wissen, wenn ich einem anderen Menschen begegne, kann der den Virus in sich tragen. Und ich kann daran sterben. Ist das der Gedanke, den du jetzt hast?

Al-Omary: Das ist genau der Gedanke, den ich habe. Das nimmt mir nicht die Verantwortung, wenn ich weiß, dass ich krank bin, nicht rauszugehen. Oder eine Maske zu tragen. Aber grundsätzlich begegnen sich Menschen immer auf Augenhöhe und in Selbstverantwortung. Genauso könnte der Typ kein Virusträger sein, sondern ein Massenmörder. Und dann würde man auch anders argumentieren.

Müller: Richtig. In dem Moment wären wir Massenmörder. Aber meine Frage lautet: Wäre es denn den Ängstlichen erlaubt gewesen, zu Hause zu bleiben? Nicht zur Arbeit zu gehen? Ihr Geschäft zuzuschließen? Die Kinder nicht zur Schule zu schicken? Und so weiter und so fort. Wäre das denen dann in dem Fall erlaubt gewesen? Oder musste man diesen Shut-down und Lock-down machen, damit genau solche ängstlichen Menschen überhaupt das Recht hatten, zu Hause zu bleiben? Das ist meine Frage.

Al-Omary: Naja, das ist eine Frage des Gesetzes. Also natürlich besteht eine allgemeine Schulpflicht. Und wenn der Gesetzgeber nicht sagt, du darfst aus Gründen von Corona deine Kinder zu Hause lassen, hättest du das Kind zur Schule schicken müssen. Aber der Staat denkt da ja anders. Der Staat sagt ja, und das ist ja auch in der deutschen Kultur, der Wunsch nach Gleichheit ist extrem stark ausgeprägt. Wenn es allen schlecht geht, fällt es auch allen leichter, das zu ertragen. Jetzt zu sagen, du wirst bestraft, weil du Angst hast, ist nicht unbedingt die Kultur, die wir vertragen in unserer Gesellschaft. Aber so wie wir gesetzlich entschieden haben, alle werden eingesperrt, alle tragen Masken, alles wird Lock-down. Da hätte man genauso gut sagen können, über 65-Jährige dürfen nicht mehr raus. Oder nur zu bestimmten Zeiten. Also ich hätte per Verordnung das andere regeln können. Aber man hat sich dafür entschieden, alle gleich zu behandeln. Das Argument dafür war, wir wissen noch zu wenig. Also sind wir lieber vorsichtig. So kannst du immer argumentieren. Und so wird es ja auch begründet. Aber am Ende des Tages komme ich zurück zu dem ersten Punkt: Menschen begegnen sich eigenverantwortlich. Und wenn ich auf die Straße gehe, gehe ich das Risiko ein, zu sterben. Ich kann mir einen Virus einfangen. Ich könnte überfahren werden. Ich begegne einem Messerstecher. Ich kriege einen Herzinfarkt. Oder mir fällt ein Stein auf den Kopf. Sich etwas holen und daran sterben ist normales Lebensrisiko.

Müller: Hätte die Politik das machen können? Wäre das überhaupt möglich gewesen, zu sagen: „Okay, die, die Angst haben, andere anzustecken, dürfen zu Hause bleiben. Die, die Angst haben, sich anzustecken, dürfen zu Hause bleiben. Sechs, acht, zehn Wochen lang.“

Al-Omary: Ja, warum nicht?

Müller: Wäre das möglich gewesen?

Al-Omary: Ja. Warum denn nicht? Der Staat hat doch jetzt auch Dinge entschieden, die wir vor ein paar Wochen noch für völlig unmöglich gehalten hätten. Einerseits, dass sie mehrheitsfähig sind. Und B, dass das überhaupt in Gesetzesform zu gießen ist. Weil die meisten Dinge nicht per Gesetz, sondern per Verordnung gemacht worden sind. So. Und ich kann genauso gut die anderen Dinge auch verordnen. Natürlich kann ich per Dekret oder per Parlamentsbeschluss die Schulpflicht außer Kraft setzen. Also es sind ja unmögliche Dinge gemacht worden. Man hätte genauso gut das andere machen können.

Müller: Ja, aber dann wären doch so viele weiter zur Arbeit gefahren. Die Hälfte der Schulklasse hätte gesagt: „Okay, wir wollen weiter zur Schule gehen.“ Und so weiter und so fort. Wäre das durchführbar gewesen? Also wenn ich mir vorstelle, ich müsste diese Entscheidung treffen, glaube ich mal, dass der gesamte Shut-down und Lock-down die einfachere Lösung ist. Oder war.

Al-Omary: Ja, einfacher im Sinne von akzeptierter. Im Sinne von gleichbehandelnder. Im Sinne von konsequenter. Auf der Verwaltungsebene ist das eine genauso unmöglich und paradox wie das andere. Also du hast ja gefragt, ist es möglich? Ist es durchführbar? Ja. Das wäre durchführbar gewesen. Aus meiner Sicht. Ich bin jetzt natürlich auch kein Jurist. Aber das wäre durchführbar gewesen. Wäre es gesellschaftlich akzeptiert worden? Das glaube ich deutlich weniger.

Müller: Also wäre weniger akzeptiert worden als der gesamte Lock-down.

Al-Omary: Weil es so ungleich gewesen wäre. Jetzt erleben wir auch viele Ungleichheiten. Warum darf der Friseur aufmachen, aber die Handkosmetik noch nicht?

Müller: Also der Versuch, alle gleich zu behandeln, führt zu einer unglaublichen Ungleichheit.

Al-Omary: Nein. Aber du hast ja das Thema DDR genannt. Da ging es halt allen gleich schlecht. Und alle waren eingesperrt. Das ist natürlich leichter, als wenn du permanent irgendwie West-Fernsehen siehst. Da gibt es einen schönen Post, den ich auf Facebook gesehen habe. „Die Grenzen dicht, Regale leer. Willkommen in der DDR.“ So. Und wenn es halt allen schlecht geht, dann ist es sicherlich leichter zu argumentieren und auch leichter zu regieren. Wobei ich jetzt gar nicht in so eine Regierungsschelte will. Aber von meinem Freiheitsgedanken her sage ich eben, warum werden die Mutigen ausgebremst, um die Feiglinge zu schützen?

Müller: Also ich glaube, die Mutigen sind angehalten, sehr viele Entscheidungen für sich selbst zu treffen. Die uns hoffentlich hier aus diesem Schlamassel rausbringen. Wir hängen da drin. Wir haben keine Ahnung, wie wir rauskommen. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass hier auch ein Potenzial entfaltet wird durch die Not, was sich ohne diese Not nicht entfaltet hätte. Ich kann mir gut vorstellen, dass da viele, viele über sich selbst hinauswachsen. Und ich merke an mir selber auch, dass diese zehnte Woche in mich gehen und mir Fragen stellen und mir an den Kopf fassen und den Kopf schütteln, und ich habe schon richtig Kopfschmerzen vor lauter Kopfschütteln, weil ich das Ganze nicht begreifen kann, doch dazu geführt hat, wirklich zu sagen, okay, also ich muss einfach grade stehen. Die Kraft brauche ich jetzt. Und wirklich meine gesamte Kraft wird gebraucht. Und ich weiß, dass sie wirklich sehr viel klarer und, wie soll ich sagen, noch mehr Standing, also Standing, was könnte ich denn da auf Deutsch dafür sagen, bekommen hat.

Al-Omary: Ja. Also der Wunsch nach Entscheidungen wird wieder stärker. Die Ohnmacht ist vorbei. Der Wunsch nach Orientierung wird stärker. Die Ich-Bezogenheit hat sicherlich deutlich zugenommen. Also einerseits auf so einer metaphorischen Ebene. Aber auf der anderen Seite natürlich auch auf so einer sehr, sehr egoistischen Ebene. Weil immer mehr Leute ja auch ums Überleben kämpfen. Das wird natürlich viel verändern. Und ich glaube in der Tat, dass wir an einem Punkt in der Geschichte dieses Landes stehen, wo mehr Leute bereit sind, sich zu engagieren. Wo mehr Leute jetzt auch Verantwortung übernehmen müssen. Weil sie dazu gezwungen werden. Wir werden aber auf der anderen Seite eine extreme Alimentierung des Staates erleben. Um das ein Stück weit wieder einzudämmen. Weil ich natürlich auch mit diesen Almosen, die der Staat verteilt, auch wieder ganze Gruppen ruhigstellen kann. Und die Frage ist jetzt, nimmt man Verantwortung für die Gesellschaft? Oder nimmt man Verantwortung für seine Branche? Oder nimmt man sie für sich selbst? Und das wird es in verschiedenen Ausprägungen und Schattierungen bei jedem geben. Aber dass wir eine Krise haben, bemisst sich nicht an Wirtschaftskrise und bemisst sich auch nicht an einer Gesundheitskrise. Sondern es bemisst sich an einer Bewusstseinskrise. Genau an dem Punkt, wo wir uns jetzt zu entscheiden haben. Und insofern sind das schon sehr spannende Zeiten. Also ich gucke mir das natürlich auch aus der Perspektive eines Ex-Politikers an. Wo ich sage, was passiert denn da jetzt? Welche Gruppen erstarken da jetzt? Tun sich da jetzt ganz neue Bewegungen auf? Haben wir da eine neue Radikalisierung? Eine neue Politisierung? Eine neue Form der Ökonomisierung? Was ist, wenn jetzt eine Konzentration auf bestimmte Marktteilnehmer, wenn viele kleine Geschäfte sterben? Also es gibt jetzt so viele Entwicklungen. Und jetzt bin ich auch mal ganz egoistisch. Ich hatte neulich noch gesagt, jetzt als Unternehmer, wenn du die Krise überstehst und hast genügend Geld in der Kasse, das ist ein El Dorado. Das sind jetzt Zeiten wie nach dem Fall der DDR, als die Mauer fiel. Wo dann viele ja rübergegangen sind und haben dort Geschäfte gemacht. Und aufgekauft. Also eine Aufbruchsstimmung, ein Wirtschaftswachstum. Eine Konzentration. Also wie Goldgräberstimmung. So. Und es gibt für genügend Menschen jetzt auch die Chance, die genügend Geld auf der Bank haben, die gut aus der Krise herauskommen. Es gibt ja auch Kriegsgewinner. Für die ist das jetzt natürlich auch ein offenes Feld. Und ich will jetzt diesen dummen Satz: „Krise ist immer auch Chance“ nicht bemühen. Aber wer jetzt was auf der Tasche hat, wer jetzt kreativ ist, wer jetzt mutig ist, der kann verdammt viel gewinnen. Da gehen auch extrem viele Türen auf. Um auch was Positives mal zu sagen.

Müller: Ja. Wobei bei mir natürlich jetzt gleich wieder das kommt. Wo ich mir denke, das, was du jetzt angesprochen hast. Eben dieses „Okay, ich kann jetzt wieder Geschäfte machen. Ich kann jetzt auch, wenn ich aus dieser Krise gut hervorkomme, kann ich eben da noch mehr Geschäft draus machen.“ Selbstverständlich ist das möglich. Aber auf der anderen Seite sehen wir doch jetzt, grade im Moment, dass es darum eigentlich gar nicht geht.

Al-Omary: Die Frage ist, wen du fragst. Also ich sehe das schon. Und denke mir, okay. Mein Vermögensberater hat mir vor einigen Monaten gesagt: „Du musst eine Immobilie kaufen.“ Da habe ich gesagt: „Naja, ich warte mal noch ab. Wenn die nächste Krise kommt.“ Ich dachte nicht an Corona. Ich dachte eher, dass die Börse crasht. Oder dass man irgendwie eine neue Bankenkrise hat. Oder dass der Euro kaputt geht. Das wäre jetzt eher das, was ich in meiner Phantasie hatte. Aber warte mal ab. Da verlieren jetzt viele Leute ihr Eigenheim. Dann kannst du billig ein Haus schießen. Oder nach dem Motto: „Oh Gott, ich gründe jetzt eine Firma.“ Früher war es Fachkräftemangel. Jetzt kriegst du billiges Personal, weil sie alle entlassen werden. Das ist jetzt eine sehr ökonomische Sicht der Dinge. Aber aus meiner Sicht wird es eine brutale Goldgräberstimmung geben. Und das ist jetzt genau die Frage. Erleben wir eine Renaissance des Turbokapitalismus? Oder erleben wir jetzt die Sozialisierung? Weil wir sagen: „Um Gottes Willen, jetzt ist es Zeit, solidarisch zu sein.“ Und Solidarität wurde ja extrem bemüht. Und auch das wird eine ganz, ganz harte Auseinandersetzung werden, wie wir in Zukunft leben wollen.

Müller: Also wenn du mich fragst – ich kann da nichts Sozialisiertes sehen. Ich sehe da auch nichts Gemeinschaftliches von oben herab nach unten. Ich sehe das auch nicht gutwillig. Ich sehe das genauso wie du das jetzt grade geschildert hast. Wobei ich das jetzt nicht beurteilen will. Aber ich bin schon eher für das Menschliche, als für das rein Kapitalistische. Denn das, was hier jetzt passiert, ist ja das Kapitalistische. Wir sehen es ja jetzt, was durch dieses kapitalistische Denken auf uns zukommt. Das hat mit Corona meiner Meinung nach gar nichts zu tun.

Al-Omary: Ja, aber ich sehe auch den Zusammenhang nicht unmittelbar. Also Corona wurde nicht durch Kapitalismus oder Fehlentscheidungen ausgelöst. Aber am Ende auch da: Krise heißt Entscheidung. Krise bedeutet Wendepunkte. Wenn du jetzt ökonomisch denkst, hast du natürlich jetzt einfach Riesenchancen. Und es gibt den schönen Banker-Spruch: „Geld ist nie  weg. Es hat nur jemand anders.“ Und jetzt werden relativ viele Menschen verarmen. Und irgendwo muss auch dieses ganze Staatsgeld hin. Wir sehen jetzt schon, dass die Börse wieder extrem gestiegen ist. Wir werden noch einen weiteren Anstieg der Immobilienpreise erleben. Weil am Ende schüttet der Staat Gelder aus, um Menschen zu helfen. Über drei, vier Umwege, egal, durch wessen Hände es gegangen sind, landet es am Ende bei irgendeinem, der genug Geld hat. Und der muss es dann irgendwo investieren. Und der investiert es in Immobilien. Und er investiert es in Aktien und in andere Sachwerte. Der investiert es nicht in Bargeld. Weil das wird natürlich ein Stück weit durch Inflation potenziell entwertet. Und da passiert dann noch was. Also wir werden in meiner Wahrnehmung eine Renaissance des Kapitalismus erleben. Weil ich glaube, und ich füge hinzu, auch hoffe, dass diese kollektive Krisenbewältigung uns nicht den Egoismus und die wirtschaftliche Entfaltungsfreiheit genommen hat. Ich will aber auch nicht ausschließen, dass durch diese ganzen Debatten die politische Linke gestärkt wird. Und man sagt: „Jetzt muss es aber fair sein.“ Die Debatte findet ja auch schon statt. Wer kriegt denn jetzt Geld? Wäre es nicht besser, den Hartz IV zu erhöhen, statt die Lufthansa zu retten? Wäre es nicht besser, die Wohlfahrtsindustrie zu stärken, anstatt die Autoindustrie? Und diese Debatten finden jetzt statt. Und wer gut aus der Krise rauskommt, der hat zumindest ein riesiges Potenzial. Und das ist eben auch etwas, was jetzt zu entscheiden ist. Will ich zu den Gewinnern oder zu den Verlierern gehören? Und nach meiner Ohnmacht, die ich eben hatte, wo ich gesagt habe: „Verdammt, was passiert jetzt hier?“ Und nach der Bewältigung meiner ersten Existenzängste habe ich mir auch überlegt, hey, bei der Wende warst du zu jung. Aber jetzt bist du dabei.

Müller: Ja, also die Wende, das ist schon meiner Meinung nach richtig gut ausgesprochen und gesagt. Also an einem Wendepunkt sind wir. Und ich glaube, der Wendepunkt ist auch ein guter Schlusssatz. Wir schauen mit sehr viel Neugierde und Spannung, was uns diese Wende bringen wird. Und ich freue mich darauf, wenn wir uns hier alle dann wieder zu einem neuen Podcast treffen. Vielen Dank fürs Dabeisein. Und bis zum nächsten Mal. Tschau.