Episode #014 Quo vadis Menschlichkeit

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„Gedanken zur Menschlichkeit“ ist ein philosophischer Podcast mit Annette Müller, die von Medienprofi Falk S. Al-Omary interviewt wird. Der Podcast möchte bewusst Kontroversen schaffen und neuen Gedanken abseits des Mainstream Raum geben.

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Hier können Sie diese Podcastfolge nachlesen:

Annette Müller: Menschlichkeit Quo vadis. Herzlichen Willkommen zum heutigen Podcast. Ich freue mich auf ein Gespräch mit Falk Al-Omary. Wie menschlich geht es zu in unserem Leben? Falk, hast du das Gefühl es geht unmenschlich zu?

Falk Al-Omary: Es kommt drauf an, wie man fragt. Ich will nicht, dass es unmenschlich zugeht – im Gegenteil. Ich finde, dass es im Moment eine extrem hohe Aufmerksamkeit gibt auf das Thema Menschlichkeit, auf den korrekten Umgang miteinander. Ich finde sogar eher, es wird fast übertrieben. Man darf ja kein böses Wort mehr sagen, keine Kritik mehr üben, kein Feedback mehr geben, alles wird relativ schnell als Verletzung aufgenommen. Das Schöne ist, es gibt eine unheimlich hohe Aufmerksamkeit auf das Thema Menschlichkeit und Miteinander. Auf der anderen Seite sage ich mal, kann ich auch nicht alles wegmoderieren und ich muss auch mal eine Ansage machen können. Und wenn man da eine Balance hat und ich finde wir haben die zurzeit, dann ist die Menschlichkeit keineswegs verloren gegangen.

Müller: Ich betrachte das natürlich wieder von zwei Seiten, wie es sich ja auch philosophisch gehört. Also ich betrachte jetzt, wenn ich das Wort Menschlichkeit habe, genau das Gegenteil, was denn für mich unmenschlich wäre. Also würde ich für mich jetzt erstmal anschauen, was bedeutet denn Menschlichkeit für mich. Menschlichkeit für mich bedeutet nicht sofort ein übermäßiges weich sein, ein übermäßiges tolerant sein oder ein übermäßiges vorsichtig sein. Menschlich sein ist nicht unbedingt der Eiertanz, um jemand anderen nicht zu verletzen. Ich kann Menschlichkeit dann definieren, wenn ich mir anschaue was unmenschlich wäre. Also unmenschlich wäre für mich zum Beispiel, wenn ich gezwungen wäre ein Eiertanz aufzuführen, nur um andere Menschen nicht zu verletzen. Da würde bei mir jetzt die Unmenschlichkeit sofort beginnen, weil mich das in meinem Menschsein eingrenzt, einschränkt.

Al-Omary: Ohne Frage, also dieses immer nett sein müssen, immer korrekt sein müssen, auf jeden Satz aufpassen müssen ist natürlich eine massive Einschränkung. Es gehört zur menschlichen Natur dazu, mal Aggressionen zu haben, mal traurig zu sein, unzufrieden zu sein, sauer zu sein, enttäuscht zu sein. All diese Gefühle gibt es ja und man muss die auch zeigen dürfen. Dann sind wir wieder bei dem Punkt, den wir so oft bei Diskussionen hatten: Wir brauchen im Grund mehr Redlichkeit und mehr Verständnis für einander dahingehend, dass man diese Emotionen auch zulässt. Es wäre trotzdem schön, diese so zu kontrollieren, dass es andere nicht verletzt, aber selbst das passiert. Das passiert im Alltag immer wieder: Wenn jemand in einer extrem harten Situation ist, reagiert er nicht so wie er reagieren sollte. Aber ich finde deine Betrachtungsweise sehr interessant: Wir dürfen Menschlichkeit nicht mit nett sein oder mit rein kommunikativen Aspekten gleichsetzen, sondern müssen Menschlichkeit deutlich holistischer betrachten. Und da ist ja dein philosophischer Ansatz nochmal viel weiter gefasst.

Müller: Also, wenn du jetzt aus diesem Erleben sprichst und mir eben diese Alltagserfahrung mitteilst, dann würde es – krass gesagt – „menscheln“. Also wenn jetzt jemand sich ausdrückt und wenn jetzt jemand seine ganzen Emotionen vielleicht auf einer Art und Weise zum Ausdruck bringt, wo andere sich auf den Schlips getreten fühlen oder wo es zum Konflikt kommt, dann sagt man doch im Allgemeinen „es menschelt“. Ich finde das schon auch wichtig und auch richtig und authentisch. Ich sehe das auch wieder an dieser Wurzel, dass wir im Allgemeinen – zum Beispiel in der Schule, von den Eltern oder in der Erziehung – gar nicht lernen, wie wir mit diesen überbordenden Emotionen wirklich konstruktiv umgehen können. Aber es gibt ja Gott sei Dank mittlerweile Mittel und Wege, wie man das in wirklich wunderbare Bahnen lenken kann. Es ist ja nicht so, dass wir dem hilflos ausgeliefert sind. Wir haben ja Möglichkeiten, zu lernen, wie man Emotionen ausdrückt und zu erkennen, dass dieser Ausdruck der Emotionen ein Gesundsein vorrausetzt und die Unterdrückung von Emotionen falsch ist. Ich meine damit nicht die Selbstbeherrschung, sondern tatsächlich das Legieren und die falsche Unterdrückung, die das reine positive Denken ganz direkt und stark in die Psychosomatik, in die Krankheit führt.

Al-Omary: Das ist sicherlich so, also die Zahl der psychischen Erkrankungen nimmt ja auch deutlich zu und die Auswirkungen sind natürlich auch viel intensiver im Alltag, im menschlichen Miteinander für die Arbeitswelt, in der ganzen Gesellschaft als die normalen Krankheiten, die man halt so kennt, also die rein körperlichen Krankheiten. Das ist sicherlich ein Thema, möglicherweise auch deswegen, weil man das Menschsein in einer Systematik braucht, wie wir sie nun mal haben, in den Rollen, die wir ausführen müssen, sei es in der Familie, sei es im Job, sei es im normalen Leben, sei es im Bekanntenkreis. Man kann ja im Grunde gar nicht natürlich sein. Ich würde auch gerne den Begriff der Authentizität, den ich ganz fürchterlich finde mit rein bringen. Es heißt ja immer, jeder soll authentisch sein. Jetzt frage ich mich, was ist denn authentisch? Der Vater, der am Boden rumliegt und mit seinem Sohn mit dem Bagger spielt und schreit und kreischt und sich benimmt wie ein Fünfjähriger? Oder ist jemand authentisch, wenn er in einem Meeting, das einem total auf die Nerven geht, die Zähne zusammenbeißt und fleißig mitschreibt? Also wann kann man wirklich authentisch sein? Und wenn man authentisch wäre, würde das auf Akzeptanz stoßen?

Müller: Authentisch sein hat ja was mit ehrlich sein zu tun. Und da müssen wir uns alle an die eigene Nase fassen und schauen, wann bin ich ehrlich. Es gibt zwei Formen von Ehrlichkeit: Ehrlichkeit mir selbst gegenüber oder unbedingte Ehrlichkeit anderen gegenüber. Das ist auch etwas, wo wir uns streiten könnten, also über diesen Begriff. Wenn wir jetzt zur Authentizität schauen, müssen wir uns natürlich auf uns selbst beziehen und sehen, in wie weit bin ich wirklich ehrlich mit mir selbst in Bezug auf mich selbst? Da geht es wieder darum, Ruhe zu finden, um Einkehr zu halten, um diese Introspektive überhaupt machen zu können. Sich in sich hineinzufühlen, was fühle ich gerade? Einfach nur zu spüren, was fühle ich gerade, ist schon sehr hilfreich. Man muss diese Gefühle gar nicht ausdrücken, man muss sie auch nicht unbedingt benennen können. Man muss diesen Gefühlen aber Aufmerksamkeit schenken und sie spüren. Allein das ist schon ein ganz großer Schritt zur eigenen Authentizität und auch ein Gegenmittel zur Verbiegung. Viele verbiegen sich ja, weil sie einer bestimmten Rolle, wie du das gesagt hast, gerecht werden wollen. Es geht ja nicht nur um die Rolle, sondern es geht ja auch um die Anforderungen, die in dieser Rolle an uns gestellt werden. Die Rolle als Vater in einer anderen Kultur bedingt zum Beispiel andere Verhaltensweisen als in einer anderen Kultur, das ist ja ganz unterschiedlich. Deshalb ist eine Rolle ja nicht unbedingt festgeschrieben. Wir müssen uns wiederfinden, und zwar authentisch.

Al-Omary: Ich bin dir dankbar, dass du die Introspektive ansprichst, denn am Ende ist es natürlich auch das. Menschlichkeit wird ja auch am Verhalten gemessen. Wie oft hört man den Vorwurf, das und jenes ist menschenverachtend oder das ist unmenschlich? Das wird einem ja heute sehr schnell entgegen geschleudert, wenn ein vermeintliches Fehlverhalten festgestellt wird. Aber es ist natürlich in der Tat hilfreich zu gucken, wo kommt denn das her? Wenn ich ehrlich mich analysiere, was fühle ich gerade wie du es gesagt hast und dieses Gefühl dann auch versuche objektiv auszudrücken und zu erklären, ich habe jetzt so und so reagiert, weil ich das und das und das bei mir wahrnehme, dann löst das natürlich auch vieles auf. Also es hilft einem selbst ja auch besser zu werden in der Kommunikation, in der Wirkung, in der Kommunikation mit anderen. An der Stelle ist es auch wichtig, ehrlich zu sich zu sein, sich vielleicht nicht verbiegen zu müssen. Aber manchmal ist es wohl auch hilfreich, sich zu verbiegen. Wenn ich jeder Emotion freien Lauf lasse, dann wird es auch irgendwo schwierig. Es hat Sinn, sich ein Stück weit zurückzuhalten, manchmal. Aber es kann auch nicht sein, dass man permanent wider seiner Natur lebt. Ich kann das immer wieder auch von mir sagen, ich erzähle da immer gerne auch in unseren Gesprächen, was ich so erlebe und ich merke halt schon, wenn ich irgendwo schlechten Service erlebe oder wenn ich im Hotel nicht gut behandelt werde oder wenn irgendwo wirklich brutale Fehler passieren, obwohl man fünf Mal erklärt hat, wie es richtig geht, da habe ich schon auch manchmal verbal die sprichwörtliche Hasskappe auf. Das gehört einfach zu meinem Naturell. Gleichwohl denke ich, dass eine Menge Leute auch ganz gerne mit mir zusammenarbeiten – ohne, dass man sich zu stark verbiegen muss. Also die Balance muss stimmen, aber ich darf auch Choleriker sein, ich darf auch irgendwo ein Trauerkloß sein, also ich darf schon relativ viel, aber ich muss es für mich plausibel haben, ich muss es erklären können und ich muss halbwegs in der Lage sein, das auch anderen gegenüber zu benennen. Ich brauche einen Grund für ein bestimmtes Verhalten, und das kann auch eine Emotion sein.

Müller: Also fast unser gesamtes Verhalten ist emotional gesteuert und bestimmt. Wenn man es in der Tiefe analysiert, ist alles emotional gesteuert und bestimmt. Wobei wir ja als Emotion immer irgendwie oberflächlich betrachtet Gefühlsduselei verstehen. Was aber damit gar nichts zu tun hat. Denn wir sind emotionale Wesen, wir sind Menschen und da kann keiner dran vorbei. Es gibt den Mister Spock und seine Familie bei uns nicht. Und deshalb ist es auch legitim, denn es geht auch gar nicht so sehr darum, wie andere Menschen jetzt auf dich oder mich oder auf uns reagieren, sondern es geht im Endeffekt um den berühmten Blick in den Spiegel. So oft hört man: Kannst du dir überhaupt noch in die Augen schauen selbst im Spiegel? Was geht da in dir vor? Was hast du getan? Frisst dich dein schlechtes Gewissen nicht auf oder schämst du dich nicht deiner selbst für dein unmenschliches Verhalten? Also das ist natürlich schon das, wo wir letzten Endes mit uns ins Gericht gehen, und zwar immer am Maßstab der Gerechtigkeit, die für uns persönlich gilt.

Al-Omary: Die letzten drei Worte sind wichtig: Gerechtigkeit, die für uns persönlich gilt. Ich finde schon, dass man individuelle Maßstäbe setzen muss. Ich würde mir jetzt ungern eine kollektive Gerechtigkeit von irgendwelchen Institutionen oder anderen Menschen intubieren lassen, sondern ich brauche einen eigenen Wertekompass. Nur der kann den Abgleich darstellen, um dann in den Spiegel zu gucken. Also wenn andere sagen, ich verhalte mich schlecht, kann es für mich persönlich trotzdem richtig sein, weil es meinen Wertmaßstäben entspricht, weil es ein innerer Kompass ist. Und das ist das, was ich auch in der Markenwelt erlebe. Unternehmensmarken und Persönlichkeitsmarken sind alle hoch unterschiedlich, sind aber für sich stringent und führen ihre Marke auch entsprechend der inneren Haltung und einem definierten Markenkern. Das kann dann genauso richtig sein wie das Verhalten einer anderen Marke, die einen anderen Markenkern für sich definiert hat. Insofern ist Menschlichkeit, genauso wie eine Markenentwicklung, immer erst ein In-sich-Schauen und eine Reflektionskompetenz, zu wissen was will ich – auch langfristig und nicht nur kurzfristig trieb- oder emotionsgesteuert. Was mich aber total interessieren würde: Du warst ja jetzt auch auf Hawaii, du warst in Indien und ich könnte mir vorstellen, dass man da Menschlichkeit ganz anderes definiert, als das bei uns der Fall ist. Bei uns wird ja extrem schnell der Begriff Ethik draufgesetzt. Was nicht heißt, dass man gegen Ethik sein soll, ganz im Gegenteil. Aber ich könnte mir vorstellen, dass Maßstäbe in anderen Kulturen total anders sind. Und wenn wir über Menschlichkeit reden, dann können wir ja nicht nur davon ausgehen wie das hier in Deutschland ist und in unseren Breiten, sondern wir müssen ja mal gucken, dass es eine globale Menschlichkeit im Grunde gibt mit ähnlichen Wertmaßstäben, wie sich Menschen untereinander verhalten. Das fände ich spannend von dir zu hören, weil du diesen interkulturellen Blick hast.

Müller: Nun ja, also ich meine ganz so global ist der nicht, weil ich eben nicht alle Länder der Welt bereist habe und auch dort nicht überall wirklich intensive Erfahrungen gemacht habe, deshalb kenne ich den größten Teil der Welt also nicht. Aber was jetzt die Menschlichkeit zum Beispiel in Indien betrifft ist das super interessant und für uns sehr, sehr befremdend, dass zum Beispiel die Menschen in Indien viel strenger und in unseren Augen unmenschlicher miteinander umgehen als wir. Es ist zum Beispiel in Indien – und das tut mir leid, das so sagen zu müssen – Gang und Gäbe, Menschen auf der Straße sterben zu lassen. Man geht, man schreitet tatsächlich über sterbende, verhungernde Menschen. Wirklich mit seinen Beinen geht man über diese hinweg. Auf dem Bürgersteig, auf der Straße, am Straßenrand. Ich habe das beobachtet, ich habe das erlebt. Wo ist hier die sogenannte Menschlichkeit? Also da begeben wir uns natürlich jetzt auf ein ganz, ganz anderes Terrain. Wobei ich jetzt auch gleich nach Hawaii springen möchte. Da erlebe ich auch unbändige Unmenschlichkeit. Hawaii lebt von Tourismus. Die meisten Touristen machen Island-Hopping, das heißt sie steigen von einem Flugzeug ins andere, sind einen Tag auf der einen Insel, zwei Tage auf der anderen. Dann hat man die Inseln in einer Woche sozusagen erlebt. Die meisten Menschen, die auf Hawaii leben, arbeiten im Tourismus. Sie haben natürlich auch andere Arbeitsstellen zum Beispiel in Schulen, als Lehrer, aber es ist immens teuer, dort zum Beispiel die Monatsmieten zu begleichen. Du bezahlst für Appartements, für Dreizimmerwohnungen Wohnungsmieten von 6.000 Dollar und plus. Das muss natürlich eine Familie reinarbeiten. Die meisten haben drei oder vier Jobs, um überhaupt ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Und das empfinde ich als zu tiefst unmenschlich. Ich möchte ein kleines Beispiel sagen. Ich bin mit meiner Freundin Joan im Aufzug, wir fahren hoch und da kommen eben die Touristen rein, wirklich im Hawaiihemd, schön braun gebrannt, mit einer Luftmatratze unterm Arm, super gut gelaunt. Und wir stehen in dem Aufzug, wir fahren nach oben und dann guckt man sich an und das ist ja immer Smalltalk, egal wo du da bist. Und dann sagen die zu ihr „Hey, did you just arrive?“, also ihnen ist es aufgefallen, dass sie ganz blass ist, also nicht sonnengebräunt, und sie fragen: „Sag mal, bist du gerade erst angekommen?“. Dann sagt sie „ No, I’m sorry, I live here“, also „Nein, tut mir leid, ich lebe hier“. Sie lebt wirklich noch nicht mal vier Minuten vom Strand entfernt, hat aber keine Zeit, sich jemals in die Sonne zu legen oder schwimmen zu gehen. Und das empfinde ich auch als zu tiefst unmenschlich. Das heißt, eine unmenschliche Situation. Also hier haben wir zwei Extreme der Unmenschlichkeit. Deshalb glaube ich, wir könnten über dieses Thema bestimmt 20 Stunden sprechen.

Al-Omary: Ohne Frage, Menschlichkeit ist natürlich unendlich. Das, was du von Hawaii schilderst, ist ja erst einmal generell für die Vereinigten Staaten oder für die angelsächsischen Systeme nicht ungewöhnlich, dass man mehrere Jobs braucht. Natürlich sind die Mieten auf Hawaii nochmal deutlich höher wegen der Touristen. Wir erleben das in Ansätzen hier in Deutschland aber auch. Jetzt ist aber auch die Frage, ist Arbeit unmenschlich? Das wirft die Gerechtigkeitsfrage natürlich auf. Das wirft auch Verteilungsfragen auf. Das wirft auch Fragen auf nach natürlichen Ressourcen, weil natürlich dann Touristen nicht nur Natur verbrauchen auf Hawaii, sondern auch Flächen. Weil Hotels gebaut werden und Airbnb-Wohnungen statt Wohnraum. Das sind ja die ganzen Folgen, die wir in vielen Touristenorten auch erleben. Das könnte man ja gleich auch für Dubrovnik sagen, das ist ein sehr bekanntes Beispiel, oder Palma de Mallorca. Das ist ja erstmal weltweit ein Phänomen und da würden die ganzen Gleichheitstheoretiker oder Umverteiler sagen, in der Tat ist das unmenschlich, das ist ja eine sehr gewerkschaftliche Arbeitnehmerorientierung, die dahinter steht. Aber die Frage ist eben, macht das Menschlichkeit aus? Und: Wo sind Grenzen von Menschlichkeit? Wenn du auf der einen Seite sagst, die Menschen in Indien sterben auf der Straße und es kümmert im Grunde niemanden, weil es dort Alltag ist. Hier würden wir ja sagen, um Gottes Willen das ist Menschenverachtend, wir müssen jemandem helfen. Da ist es eben normal. Das was du jetzt als krasse, soziale Ungerechtigkeit schilderst erleben wir ja in allen Industrienationen, überall auf der Welt auch im globalen Maßstab. Das finden wir ungerecht, aber da würden wir noch nicht sagen, dass das unmenschlich ist meines Erachtens. Aber was macht denn Menschlichkeit wirklich aus? Was ist denn das global Verbindende, das einen Menschen ausmacht? Das ist ja nicht die Tatsache, dass wir atmen und wachsen und dass wir unseren Lebensunterhalt verdienen müssen. Es muss ja einen Kern geben, der uns alle verbinden und der uns zu Menschen macht.

Müller: Ja, da möchte ich mal auf die indische Philosophie zurückgreifen. Also in erster Linie erfahren wir uns körperlich. Das heißt wir haben hier ein Ding, was zwei Beine hat, zwei Arme hat und das wir durch unseren Geist steuern. Das ist der Körper, das ist Fleisch und Blut. Dann haben wir noch unsere Lebendigkeit, also die Lebenskraft, die uns überhaupt erst das Leben ermöglicht. Dann haben wir das Unbewusste, das Unterbewusste, das unsere Identifikation ausmacht. Ich bin Inder, ich bin Hawaiianer, ich lebe hier in Deutschland, ich habe den und den Status, ich bin Mann, ich bin Frau, ich habe die und die Religion oder was auch immer, komme da und da her, will da und da hin, das ist ja da, wo die Emotionen sich befinden. Dann haben wir noch das Geistige, also das heißt die Intelligenz und die Inspirationsmöglichkeit. Das heißt also allein nur emotional regieren kann ja wahnsinnig unintelligent sein und diese Entscheidungskraft, die ist eben auch Teil des Menschen. Und dann haben wir den Kern. Wo kommt das alles her? Wo ist also die Quelle dieses Individuums, dieser Person? Da kommt die indische Philosophie daher und sagt: Das ist „the devine“, also das Göttliche, das Schöpferische. Das heißt wir sind Ausdruck der Schöpfung an sich und auch gleichzeitig Sinnbild der Schöpfung an sich. Und wenn wir uns jetzt auf diesen Kern versuchen zu besinnen kommen wir einer Menschlichkeit, einer globalen Menschlichkeit immer näher. Und das ist auch etwas, worauf wir uns wirklich besinnen sollten. Wer bin ich wirklich und was soll ich hier eigentlich wirklich? Und wenn ich das betrachte, egal ob ich auf Hawaii bin, ob ich in Indien lebe oder ob ich jetzt über jemanden hinübersteige oder derjenige, dem es da gerade schlecht, keinen Ausweg hat. Wir haben trotzdem alle irgendwo den gleichen Kern. Und je näher wir uns diesem Kern nähern, umso menschlicher wird das Ganze. Auch, weil wir dann uns nicht in diesen einzelnen Verzweigungen so sehr verlieren.

Al-Omary: Ist das dann auch Etwas, das wir in unseren Breiten eher als Seele bezeichnen würden? Oder gibt es da große Unterschiede dann auch zur indischen Philosophie? Also die haben ja mit Seele einerseits dieses religiöse Momentum in Diskussionen. Ganz am Ende des Tages ist es der Teil des Menschen, der sich nicht erklären lässt. Also würde man einen Menschen nachbauen, mit Fleisch und Blut und den chemischen Stoffen, dann würde er ja trotzdem nicht lebendig werden. Es gibt ja diesen unerklärlichen Teil in unserem Sein, den wir Seele nennen. Ist das der Teil? Ist das was anderes und wie hängt das mit Menschlichkeit zusammen?

Müller: Ja, das ist in dem Fall etwas anderes. Dieses Beseelte, also diese indische Philosophie, geht weit über das, „was lebt und lebendig macht“, hinaus. Das ist eben nicht so einfach zu erklären. Und dieses Beseelen hat sehr viele Aspekte. Da können wir vielleicht ein anderes Mal drüber reden. Aber was ich sagen möchte: Wenn wir uns diesem Beseeltem näher näheren, dann nähern wir uns auch dem Kern.

Al-Omary: Würde uns dieses Sich-nähern-an-den-Kern denn wirklich menschlicher machen? Du hast ja von der indischen Philosophie gesprochen und du sagst ja, man steigt dort eben über sterbende Menschen. Das löst jetzt bei vielen auch Entsetzen aus. Wir neigen ja auch dazu, gerade die indische Philosophie zu glorifizieren. „Sei nett zu allen Tieren und du wirst wiedergeboren.“ Gleichzeitig gibt es aber auch dieses Kastensystem, also eine schreckliche soziale Ungerechtigkeit. Aber grundsätzlich finden wir das, was wir unter Hinduismus verstehen, friedlich und besonders humanistisch, mit unserem verklärten Blick. Wie passt das zusammen zu dieser Erkenntnis, dass man zu diesem Kern gelangen sollte?

Müller: Also die ganze Philosophie, diese ganze Lehre ist ja wirklich sehr, sehr alt. Und nur weil man mal Etwas wusste oder weil irgendwo Etwas geschrieben ist, bedeutet das noch lange nicht, dass das in den Alltag und in die Weisheit übergeht oder gelebt wird. Also ich habe eben in Indien gesehen, dass diese Dinge nicht gelebt werden. Das wollte ich ja damit zum Ausdruck bringen. Nur, wenn du mich genau danach fragst, haben die ja wieder eine ganz andere Einstellung. Die sagen: Naja, es gibt mehrere Leben, was soll es. Ich lege jetzt nicht so viel Wert auf dieses eine, denn das nächste wird besser. Oder: Das nächste wird schlechter. Das ist dann nicht so schlimm, denn für die ist es unendlich. So kann man es sich auch leicht machen und es wird sich auch sehr leicht gemacht, das ist schon richtig. Aber wenn wir jetzt danach schauen, warum ist das denn so aus den Fugen geraten oder warum wird das nicht mehr so gelebt? Dann müssen wir anschauen, dass sich alles verändert und das Entwicklungen nicht immer nur positiv sind. Es hat alles seine zwei Seiten. Also die Werte dort in Indien heute sind westliche Werte. Und zwar sogar noch in der Übersteuerung, weil ja die Menschen dort nicht erlebt haben oder noch nicht gelernt haben, welche Nachteile unsere westlichen Werte haben.

Al-Omary: Die Frage ist ja, ob es Nach- oder Vorteile sind. Gott sei Dank muss man dann auch nicht immer über Leichen steigen. Was mir aber als vergleich wieder einfällt: Es ist immer das Vertrösten auf eine andere Zukunft. Also wenn man jetzt sagt: Ich habe in Indien das nächste Leben, ich lege nicht so viel Wert auf dieses eine, dann ist es ja im Christentum in unseren Breiten eher das Thema, wenn ich mich hier gottgefällig verhalte dann kann ich im Himmel oder im Paradies ein gutes Leben führen und wenn ich mich hier nicht gottgefällig verhalte und mich nicht beweise, dann komme ich eben in die Hölle und werde unendliche Qualen erleiden. Es ist also immer ein Vertrösten auf die Zukunft, die uns am Ende dazu zwingt, bestimmte Verhaltensweisen an den Tag zu legen.

Müller: Richtig, das ist Teil unseres Menschseins, da menscheln wir eben. Und wir brauchen auch gar nicht mit dem Finger auf die Religion oder die Philosophie zu zeigen, sondern wir können auch in unser tägliches Leben schauen. Wie oft vertrösten wir uns denn mit einem vermeintlichen Genuss, mit einer besseren Zukunft und sagen: Okay, heute pack ich nochmal an, aber morgen ruhe ich mich dafür aus, zum Beispiel? Also ich meine, wir sind ja immer, täglich getrieben von einer besseren Zukunft, von einem besseren Morgen, von einem besseren Übermorgen. Wir wollen ja immer unseren Zustand noch verbessern. Wo ist der Unterschied? Da ist für mich nicht der Unterschied im nächsten Leben und da ist er auch nicht im Jenseits oder im Himmel oder in der Hölle oder sonst irgendetwas, sondern das machen wir ja schon täglich. Dazu brauchen wir keine Religion.

Al-Omary: Das hieße ja, Menschlichkeit wäre ohne den Faktor Zeit oder ohne die Dimension Zeit dann gar nicht zu denken. Also ich finde das zum Beispiel schon interessant. Wir sparen fürs Alter, wir arbeiten jetzt intensiver, damit wir dann drei Wochen in den Urlaub fahren können. Wir gönnen uns in der Gegenwart nichts, um uns in der Zukunft uns ein großes Luxusgut leisten zu können oder versorgt zu sein. Das sind ja alles Dinge, wo wir uns natürlich Emotionen, Triebe, Bedürfnisse was auch immer nicht gönnen, um in Zukunft einer Belohnung zu erfahren. Wie das Pferd, das immer der Karotte nachläuft, werden wir auf diesem Weg auch irgendwo entmenschlicht oder eher vermenschlicht. Also die Frage ist ja, ist diese Hoffnung etwas, was uns in die Schranken weist und dadurch das Zusammenleben erleichtert oder ist es eher etwas, was uns als kollektives Gefängnis begegnet, weil wir eben nicht und können, was wir eben gerne tun würden? Ich glaube, das hat beide Facetten.

Müller: Kannst du mir jetzt nochmal eine ganz konkrete Frage stellen, weil ich habe da jetzt ganz viele Themen gehört, wo ich etwas zu sagen könnte.

Al-Omary: Die Feststellung ist: Ohne zeitliche Dimension ist an das Thema Menschlichkeit nicht zu denken. Die Frage ist eben: Ist das gut oder ist es schlecht? Wobei „gut“ und „schlecht“ eigentlich die falschen Ausdrücke sind. Ist es für die Menschlichkeit oder den Begriff Menschlichkeit sinnvoll, immer auf die Zukunft zu verweisen und heute zu verzichten, um morgen eine Belohnung zu erfahren? Hilft das der Menschlichkeit, weil wir uns eingrenzen, oder schadet es der Menschlichkeit, weil es nicht unserer Natur entspricht?

Müller: Also ich bin eher beim zweiten, weil wir in der Hoffnung auf Belohnung sind – was immer Belohnung für uns bedeutet. Wobei ich da jetzt nicht „wir“ sagen möchte. Sagen wir mal, dass viele oder das Gros eben fehlgeleitet ist und sich vielleicht zu Dingen hinreißen lässt, die nicht ganz in Ordnung sind. Also solche Dinge zu tun, wo man dann im Spiegel sich nicht so gerne mehr in die Augen schaut. Zum Beispiel: Ich möchte jetzt das und das und das erreichen, wie mache ich das? Ich stehle es mir einfach. Das heißt, Diebstahl, Betrug und solche Sachen gehören ja auch mit dazu, dass sich jemand ein angenehmes Morgen erschaffen möchte oder auch ein angenehmes Heute oder eine angenehme Zukunft.

Al-Omary: Das wahrscheinlich viel stärker.

Müller: Aber eben auf Kosten der Anderen. Und das empfinde ich als unmenschlich und insofern auch als sehr fehlgeleitet.

Al-Omary: Naja, du hast aber auch gesagt, es sei eben unmenschlich auf Hawaii, dass die Leute vier Jobs haben müssen. Das ist ja auch so, dass die eine nehmen und die anderen dafür schuften müssen. Da stellt sich ja auch immer die Verteilungsfrage.

Müller: Also das kann ich jetzt so überhaupt nicht beantworten. Da kann ich mir Gedanken zu machen, ob das jetzt wirklich eine Verteilungsfrage ist oder ob es eine grundsätzliche Frage ist. Ob wir insgesamt auf diese Art und Weise so weiterleben sollten und weiter machen sollten.

Al-Omary: Die Kernfrage ist aber doch die: Du sagst Stehlen und Raub und Erpressung, ohne zu sagen, dass das kriminell ist. Das sind Sachen anderer und ich würde auch sofort sagen, es ist unmenschlich. Auf der anderen Seit lautet die Frage: Ist es nicht eben doch zu tiefst menschlich, weil ja immer irgendeiner auf Kosten anderer lebt? Weil die erste Welt auf Kosten der dritten Welt lebt. Der Arbeitgeber auf Kosten der Arbeitnehmer. Der Norden auf Kosten des Südens. Was auch immer. Ich sage mal, wir werden immer gucken, dass wir in einer Welt der beschränkten Güter und Ressourcen einen haben, der mehr hat und einen haben, der noch mehr hat. Und die, die weniger haben, werden immer sagen: Das hast du mir weggenommen, staatlich induziert, systemisch bedingt oder durch unterschiedliche Startvorrausetzungen zu Unrecht oder vielleicht auch zu Recht erworben. Das wird es immer geben. Wie viel Gerechtigkeit im Sinne von Gleichheit braucht Menschlichkeit?

Müller: Ich glaube, das ist die Grundlage zu einer Veränderung dieser Situation. Also ich sehe es ganz genauso wie du, ich sehe es auch individuell, nicht nur im Gefüge. Dass sehr viel Profit dadurch gemacht wird, dass jemandem anderen etwas entzogen wird, unter Umständen sogar das Leben oder eben die Lebensgrundlage. Aus einer solchen Situation, aus dieser wirklich allumfassenden und spannenden Situation, kann uns wirklich nur Evolution, also Umdenken und Weisheit heraushelfen. Ich nehme mal an, dass es ein Prozess von 100, 200, wenn nicht 500 oder 1000 Jahren ist und dass wir damit im Moment überfordert sind, weil wir ja in diesem System leben und auch tatsächlich jeder einzelnen von uns, der heute hier lebt, mithilft am Raubbau anderer Dingen. Wir sind sozusagen Mittäter, auch wenn wir nicht direkt handeln, nicht direkt andere Länder ausbeuten und nicht direkt den Spaten nehmen, um ihn jemand anderes überzuziehen, nur um an das Gold zu kommen, zum Beispiel. Aber wir sind eben schon indirekt daran beteiligt. Es ist wichtig, das auch zu wissen und mitzuhelfen, einen solchen Wandel zu unterstützen – durch Andersdenken und Andersfühlen und andere ethische Werte. Das ist Wachstum, das ist ein Hinauswachsen aus der jetzigen Situation, das geht nicht von heute auf morgen, das ist unmöglich.

Al-Omary: Was mich dann wieder dazu bringt zu sagen: Das ist natürlich die Sache eines jeden einzelnen, weil wir haben ganz am Anfang über jeden einzelnen, über die individuellen Wertmaßstäbe gesprochen. So eine kollektive Gleichheit ist sicherlich nicht das, was menschlich ist. Menschen möchten sich messen; Menschen möchten unterschiedliche sein, sie möchten sich unterscheiden, sie möchten ihrem Glück und ihrer Berufung nachgehen und dafür auch eine Belohnung erhalten. Also insofern ist ein Stück weit eine gewisse Ungleichheit menschlich und Mensch. Deswegen muss man gucken: Ich muss es meinen Wertmaßstäben gegenüber verantworten und trotzdem mich ethisch verhalten. Wir müssen beide Welten zusammenbringen, im Bewusstsein, dass es absolute Menschlichkeit im Sinne unserer Wertkultur im Grunde aktuell gar nicht geben kann. Es wäre eine zu tiefst menschliche Gesellschaft. Eine radikal menschliche Gesellschaft ist letztlich eine Utopie, die wir mit unserem jetzigen Leben wahrscheinlich gar nicht erreichen können.

Müller: Das sehe ich ganz genauso wie du. Wobei ich auch darauf aufspringen möchte, was du gesagt hast: Wir möchten unterschiedlich sein. Warum möchten wir denn unterschiedlich sein, wenn wir doch schon sowieso unterschiedlich sind? Wir brauchen doch nicht etwas werden, das wir schon sind. Ich sehe dieses Verlagen nach „Ich möchte anders sein, ich möchte mich unterscheiden“ deshalb, weil versucht wird uns gleich zu machen, obwohl wir nicht gleich sind. Wir sind schon unterschiedlich. Wir leben nur nicht in einer Gesellschaft, in der es uns erlaubt wäre, wirklich individuell zu sein im Sinne dessen, dass wir den ganzen Reichtum, den jedes einzelne Geschöpf mit sich bringt, auch wirklich ausleben dürfen. Stattdessen wird versucht, über Erziehung, über Schule uns gleich zu machen, sodass wir in dieses System hineinpassen und nicht allzu sehr anecken.

Al-Omary: Natürlich. Man setzt ja voraus, dass wir Menschen sind, und man lehrt uns Ethik, man lehrt uns Religion, man lehrt und kulturelles Zusammenleben, man lehrt uns trainierte Verhaltensweisen, aber man lehrt uns natürlich nicht, der eigene Mensch zu sein. Das muss sich jeder selbst dann ein Stück weit erarbeiten im Laufe seines eigenen Lebens. Und mit den gemachten Erfahrungen in den Spiegel gucken zu können, einen Kompass zu entwickeln, das entsteht natürlich einfach auch. Das hängt extrem stark von der eigenen Sozialisierung ab und vom dem, wie ich von anderen Menschen begeistert oder frustriert bin, wie mein eigenes Leben einfach auch verläuft. Habe ich gute Erfahrungen, werde ich wahrscheinlich ein vertrauenswürdigerer, ein glücklicherer Mensch, als wenn ich negative Erfahrungen mache. Und so gesehen produzieren wir natürlich Unmenschlichkeit durch unser Verhalten in der Gesellschaft auch bei anderen. Wenn ich oft betrogen werde und ich habe es in meinem Geschäft auch oft erlebt, dass Menschen mich betrogen haben, dann unternehme ich entsprechende Schutzmaßnahmen, indem ich sage: Ich muss mich jetzt versichern, ich muss meine Factory betreiben, ich muss meine AGBs verschärfen ganz konkret. Und ich frage mich auch immer: Mache ich dadurch die Welt schlechter? Dadurch, dass ich neue Grenzen aufziehe, weil ich ja nur reagiere auf eine schlechte Erfahrung? Und erleben wir das nicht permanent in unserem Leben?

Müller: Meine Meinung dazu ist: Nein, damit machst du sie nicht schlechter, sondern du passt dich der Realität an. Es gibt Diebe, es gibt Mörder, es gibt Kriminelle, das ist die Realität und die sind überall, die sind versteckt, die sind offensichtlich, die gibt es überall, das ist deren Job. Sagen wir mal so: Die wollen ja auch von irgendwas leben – auf Kosten anderer. Ich sage das jetzt deshalb so herausfordernd, weil es tatsächlich meiner Meinung nach so ist und wir können es nicht ändern, dass es sie gibt. Aber wir können Vorkehrungen treffen. Wir haben doch Möglichkeiten, uns davor zu schützen. Wir haben doch Möglichkeiten, eine Gefahr zu erkennen und uns dann danach zu richten. Einer Gefahr ausgeliefert sind wir, wenn wir sie nicht kennen. Dann können wir in Fallen hineintappen. Das ist so.

Al-Omary: Wen machen wir aber damit zum Maßstab? Weil: Zwei von 100 Menschen tun mir Böses. Jetzt nehme ich diese zwei Erfahrungen und sage, ich stelle die 98 anderen auch unter Generalverdacht, da könnte ja auch wieder so einer drunter sein – und ich ändere mein Verhalten. Ich finde schon, dass das auch die Welt ein Stück weit schlechter macht, weil ich das negative unterstelle und zum Maßstab meines Handelns mache. Jetzt ist es natürlich ein natürlicher Schutz und es ist auch nicht so, dass man wirklich realistischerweise auf die Idee kommen sollte, diese Schutzmaßnahmen wegzulassen. Aber es zeigt doch, dass das negative in der Welt, das Unmenschliche, neues Unmenschliche gebärt und im Grunde viel mehr Macht über uns hat als die Menschlichkeit.

Müller: Interessanter Gedanke. Möchte ich drüber nachdenken, da kann ich so spontan gar nichts zu sagen. Wenn ich jetzt mich anschaue mit diesen vielen, vielen negativen Erlebnissen, die ich hatte. Ich gebe dem Leben immer wieder eine Chance, mich positiv zu überraschen.

Al-Omary: Du wirst ja auch positiv überrascht, keine Frage. Es gibt ja auch viele positive Überraschungen. Ich glaube nur, dass das Negative die Überhand gewinnt. Wir haben ja auch am Anfang gefragt, wo war die Menschlichkeit? Ganz plattes Beispiel: Bewertungen, Hotelbewertungen oder Gastronomiebewertungen. Ist das Essen schlecht, schreibe ich bitter-böse Kommentare in den entsprechenden Bewertungsportalen. Bin ich glücklich, sage ich in der Regel nichts. Das gilt nicht nur für mich, sondern ist auch statistisch. Ich arbeite mit vielen Kunden zusammen, die von diesen Bewertungen betroffen sind. Das heißt, das negative gewinnt mehr Raum, ich schenke dem mehr Aufmerksamkeit. Wäre da nicht eine menschlichere Gesellschaft, wenn wir dann diese 100 Jahre vielleicht weiter sind, eine, die auch Vertrauen zulässt? Wo man auf Verträge verzichten kann, wo wieder einen gewisse Handschlagmentalität gilt. Wo man erkennt, dass auch ein Betrug, der „nur“ finanzieller Natur ist, etwas Schlechtes in die Welt trägt und Verletzungen hervorruft. Wenn diese Erkenntnis sich durchsetzt, dann wären wir doch schon viel menschlicher und einen Schritt weiter. Und das ist für mich dann der Punkt. Es sind die kleinen Dinge des Alltags, die uns menschlicher machen oder uns unmenschlicher machen und mit uns die ganze Gesellschaft.

Müller: Da bin ich vollkommen deiner Meinung und ich glaube, dass wir individuell wirklich unsere winzig kleinen Tripel-Schrittchen dazu benutzen können, Stück für Stück in eine positive Richtung zu gehen. Ich habe zum Beispiel mal sowas angestoßen, erst einmal sich selbst besser zu werten und zu beurteilen. Dass ich eben so eine Gruppe gegründet habe, wo wir wirklich täglich, offiziell und mit einer gewissen Verpflichtung auch den anderen gegenüber in der Gruppe eine wirklich gute Eigenschaft, die wir an uns schätzen, preis geben. Und da habe ich eben gemerkt, dass sehr viele aufgehört haben, nach zehn oder zwölf guten Eigenschaften, das ganz leicht rein zu schreiben, sondern wirklich nachdenken mussten: Was habe ich denn noch? Was finde ich denn noch toll an mir? Was finde ich denn noch gut an mir? Aber das hat dazu beigetragen, dass sie andere auch viel besser und positiver wahrgenommen haben nach dieser täglichen Übung. Das ging über ein halbes Jahr. Das war eine tägliche Übung von über einem halben Jahr: Positives an sich selbst zu finden. Es durfte nicht das gleiche sein, sondern es musste immer ein neuer Aspekt sein. Und damit haben sehr viele geschildert: Oh, ich sehe jetzt sehr viel Positives woanders. Also das heißt: Wir trimmen unseren Geist, unser Gehirn dazu, anders zu denken, anders wahrzunehmen, anders zu werden und da haben wir schon ganz viel eigens in der Hand.

Al-Omary: Was am Ende dann für mich zu der Erkenntnis führt, dass wir Menschlichkeit zunächst in uns suchen sollten, bevor wir sie von anderen verlangen. Und dass wir Menschlichkeit für uns definieren sollten, um eigene Wertmaßstäbe auch in die Welt hinaustragen, damit die sich idealerweise verbreiten. Das mag eine sehr banale und vielleicht auch ernüchternde Erkenntnis sein, das große Thema Menschlichkeit dann doch wieder darauf zu reduzieren, aber ich habe ja keine andere Möglichkeit, ein menschenwürdiges, ein gesellschaftlich kollektives, menschliches Leben zu führen, ohne selbst Stein des positiven Ansturms zu sein.

Müller: Weißt du, Falk, für mich sind wir, du, ich, unsere Freunde, jeder einzelne der Nabel der Welt.

Al-Omary: Das finde ich ein sehr schönes Schlusswort, das bin ich auch gerne, der Nabel der Welt. Die Aussage, ich bin nicht der Maßstab, das höre ich sehr oft und ich finde sie immer falsch.

Müller: Wunderbar. Dann freuen wir uns auf das nächste Mal und bis dahin auf Widerhören.

Danke fürs Zuhören. Wir sind heute schon am Ende unserer Folge. Im zweiwöchigen Rhythmus geht es weiter. Und wenn Sie die nächste Folge mit als erster auf Ihrem Handy empfangen möchten, dann abonnieren Sie doch einfach diesen Podcast. Wie das funktioniert zeigen wir Ihnen in den Showrooms. Ansonsten lädt Sie Anette Müller ganz herzlich in Ihre Facebookgruppe ein, um Ihre Gedanken zu heute und zu den nächsten Folgen gerne mit Ihr zu diskutieren. In dem Sinne, bis zum nächsten Mal.