Episode #017 Die neue Entscheidungsunfähigkeit: Was uns befähigt, Entscheidungen zu treffen

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Wie treffen wir vernüftige Entscheidungen? Wie werden wir beeinflusst von Chaos, Angst und der modernen Welt, wenn es darum geht, Entscheidungen für unsere Zukunft ob Privat oder für unsere Unternehmen zu treffen?
Darüber philosophiert Annette Müller mit Falk S. Al Omary.
„Gedanken zur Menschlichkeit“ ist ein philosophischer Podcast mit Annette Müller, die von Medienprofi Falk S. Al-Omary interviewt wird. Der Podcast möchte bewusst Kontroversen schaffen und neuen Gedanken abseits des Mainstream Raum geben.

Du möchtest Dich zu der Folge zu Wort melden? Setz Dich direkt mit Annette über Facebook in Verbindung: https://www.facebook.com/gedankenzurmenschlichkeit/

 


Hier können Sie diese Podcastfolge nachlesen:

Annette Müller: Herzlich Willkommen zu unserer heutigen Podcast-Folge „Gedanken zur Menschlichkeit“. Heute geht es um das Thema Entscheidungen. Was befähigt uns, Entscheidungen zu treffen beziehungsweise andere für uns entscheiden zu lassen? Falk, was sagst du dazu?

Falk Al-Omary: Hm, schwer zu sagen. Viele nennen sich Entscheider, werden aber in meiner Wahrnehmung eher entschieden. Und wenn ich mich mit Konzernen unterhalte, dann stelle ich fest, dass dort im Grunde niemand entscheiden kann: Ich muss das mit diesem und jenem noch abstimmen, das muss bei uns durch die Hierarchie, das muss in die Marktfolge, das muss dem Geschäftsführer vorgelegt werden … Also viele können einfach nicht entscheiden. Viele wollen auch nicht entscheiden. Ich erlebe auch, dass viele Unternehmen Berater engagieren, um nachher einen zu haben, der Schuld ist an der Fehlentscheidung oder zu dem ich die Verantwortung hinschieben kann. Es scheint so zu sein, dass Entscheidungen vielen Menschen schwerfallen. Ich kann mir aber nicht erklären, warum. Das mag an meinem Mindset liegen. Ich entscheide gerne, ich entscheide mich auch manchmal, nicht zu entscheiden, das ist dann auch okay. Aber irgendeine Entscheidung treffe ich. Ich treffe aber immer öfter auf Menschen, die eben wirklich gar nichts entscheiden und wie eine Amöbe durch die Gesellschaft treiben. Wo ich aber dann den Eindruck habe, naja, die kommen irgendwie auch zurecht und überleben trotzdem. Vielleicht muss man auch gar nichts entscheiden.

Müller: Vielleicht meinst du damit nicht so sehr entscheiden, das heißt: Gehe ich nach links oder rechts? Sondern eher: keine Stellung zu beziehen, weil man sich eben nicht entscheiden kann für die eine oder die andere Sichtweise. Das ist auch möglich. Für mich beginnt die Fähigkeit, zu entscheiden, im Kinderzimmer. Die Eltern nehmen ja den Kindern ganz viele Entscheidungen ab und vermeiden damit auch die Erfahrung einer Konsequenz einer Entscheidung. Also ich finde es sehr wichtig, dass jeder einzelne in der Lage ist, dass ihm das Recht nicht abgesprochen wird, die Konsequenz einer eigenen Entscheidung auch zu tragen. Das heißt, viele Kinder dürfen ganz, ganz viele Fehler machen in dem Sinne, dass es ihnen hinterher schlecht geht mit der Konsequenz dieses vermeintlichen Fehlers, und die Eltern kommen dann und boxen einen raus. Die holen einen raus aus dem Schlamassel, in den man sich selber hineingebracht hat. Und deshalb entsteht der Eindruck: Ich brauche ja die Konsequenz meiner Handlung nicht zu tragen. Und hier liegt dann eben auch meiner Meinung nach die Schwierigkeit, diese Voraussicht zu haben: Wenn ich diese oder jene Entscheidung treffe, dann kann möglicherweise das und das passieren. Ich möchte da mal ein Beispiel, ein ziemlich krasses Beispiel von meiner Tochter anbringen. Meine Tochter war noch ziemlich klein, sie war in der Segelschule und dort haben sie am Abend so etwas wie Tischrücken gemacht. Also irgendetwas Magisches. Und dann hat sie mich ganz aufgebracht angerufen und hat gesagt: „Mama, Mama, Mama, ich habe Angst, wir haben das und das gemacht und jetzt passiert das und das.“ Da habe ich zu ihr gesagt: „Uuh!“ Und da sagt sie: „Mama, holst du mich?“ Ich antwortete: „Weißt du, meine Aufgabe als Mama ist, dir zu zeigen, dass du die Entscheidung getroffen hast, da mitzumachen. Jetzt hast du Angst aber nun musst du die Angst aushalten.“ Das war sehr schwierig für mich, weil ich natürlich mein Kind nicht einer Angst aussetzen möchte. Aber sie sagt mir noch heute: „Das war ein Moment, da habe ich gelernt für mein Leben. Ich bringe mich in eine Gefahr und komme vielleicht in dieser Gefahr um. Deshalb überlege ich mir ganz genau, welche Entscheidung ich treffe.“ Da habe ich mein Kind also ein Stück weit erwachsen gemacht. Ich persönlich treffe wahnsinnig gerne Entscheidungen. Ich möchte die Entscheidung immer für mich selber treffen und ich sage auch immer „I’m the boss“, also ich bin der Boss und stehe auch zu Fehlern und zu Fehlentscheidungen und trage dann auch die Konsequenzen, das ist so. Und die trage ich dann auch mit Stolz.

Al-Omary: Also ich stehe auch auf dem Standpunkt, dass, wenn man eine falsche Entscheidung getroffen hat – das kann ja passieren und das passiert auch gar nicht so selten, wenn man denn den Mut hat, überhaupt Entscheidungen zu treffen –, diese falsche Entscheidung dann auch durchzuziehen. Also ständig zu lavieren und zu sagen: Ich nehme das jetzt zurück und das machen wir jetzt doch wieder anders. Das kann ich als Führungskraft nicht machen. Und das kann ich auch nicht machen, wenn ich mich nach außen als Führungskraft mit Führungsanspruch präsentiere. Dann muss ich mal eine falsche Entscheidung treffen und muss dann eben zusehen, dass ich daraus noch das Beste mache. Ich kann sie in Nuancen korrigieren, aber ich kann nicht heute „hü“ und morgen „hott“ sagen. Man muss auch einfach mal was durchziehen. Das gehört eben auch dazu, wenn ich eine Entscheidung treffe. Das Risiko zu nehmen, Fehlentscheidungen zu treffen und diese Fehlentscheidungen gegebenenfalls auch zu Ende zu bringen und noch zum besten Resultat zu führen. Dann hattest du gesagt, möglicherweise meine ich mit Entscheidungen auch Stellung zu beziehen. Das sind ja zwei Paar Stiefel. Also, ich muss mich nicht immer für eine Meinung entscheiden. Die Entscheidungen, die ich meine, die nicht getroffen werden in Konzernen, sind die: Machen wir das Geschäft oder machen wir das Geschäft nicht? Stellen wir die Person ein, stellen wir die Person nicht ein? Nehmen wir den Auftrag an, nehmen wir den Auftrag nicht an? Das sind ganz klare digitale Entscheidungen, ja oder nein. Und wenn ich ja sage, habe ich vielleicht noch Nuancen, wo ich verhandeln kann. Ja, unter diesen Umständen. Aber das ist total digital und daran scheitern eben viele. Daran scheitern viele, weil sie die Kompetenz einfach nicht haben. Natürlich kann nicht der fünfte Sachbearbeiter in der Aktenhierarchiestufe etwas über Millionenbeträge entscheiden, das muss dann gleich der Prokurist oder der CEO tun. Das verstehe ich. Es nervt mich zwar, wenn ich an solche Personen gerate, aber das ist zumindest nachvollziehbar. Aber viele CEOs entscheiden eben auch nicht. Und da komme ich zurück auf dein Thema Kinderzimmer. Haben wir nicht auch systematisch das Treffen von Entscheidungen verlernt, weil Eltern immer nur noch ein Kind bekommen. Wir haben das Thema Helikoptereltern, wir haben das Thema: Kinder müssen behütet und beschützt werden und sie dürfen keiner Gefahr ausgesetzt werden. Das, was du gerade geschildert hast, dürfte ja bei ganz vielen Menschen das Gefühl „Rabenmutter“ auslösen, weil die einen ganz anderen Behütungsinstinkt haben. Und was ich erlebe, was jetzt an jungen Menschen aus der Schule kommt, was selbst aus der Hochschule kommt, ist, was das Thema Entscheidungen treffen angeht, was das Thema Verantwortung übernehmen angeht, in meiner Wahrnehmung – da bin ich zugegebenermaßen sehr provokant – maximal lebensunfähig. Die haben nie gelernt, mal ihren Mann zu stehen, sich mal durchzusetzen, mal auf die Nase zu fallen. Die wurden immer behütet und bekuschelt, waren immer das einzige Kind. Die haben entschieden, wohin die Eltern in den Urlaub fahren, die haben entschieden, was im Kühlschrank ist, die haben entschieden, wie die Eltern zu leben haben. Man hat das ja alles mitgemacht: Das ist mein Kind und das muss es besser haben. Und diese ganze „Betüddelung“ macht uns derart unselbstständig, dass aus meiner Sicht sogar eine grassierende Angst vor Entscheidungen vorherrscht. Und jetzt kommen diese Leute in die Unternehmen und damit werden ganze Kollektive zu diesen Amöbenschwärmen.

Müller: Da bin ich ganz bei dir, das ist richtig. Also zur Rabenmutter, den Titel, den trage ich mit Stolz. Aus meinem Kind ist eine wunderbare junge Erwachsene geworden, ganz toll. Das, muss ich sagen, war richtig gut. Und sie sagt eben auch, das war richtig gut. Wir haben ein ganz tolles Verhältnis und wir haben auch klare Strukturen gehabt, wer was entscheidet. Und ganz klar: Ich bin Mutter, das ist meine Aufgabe, das ist meine Pflicht und da kann ich nicht deine Freundin sein, die dir alles nachsieht, sondern ich erledige hier meine Aufgabe als Erziehungsberechtigte. Also nicht nur Erziehungsberechtigte, sondern Erziehungspflichtige. Und das war super, sie ist sehr begehrt. (lacht)

Al-Omary: Erziehung heißt ja auch, nicht nur großziehen, sondern für das Leben ertüchtigen. So, und dazu gehört eben auch, dass man mal Fehler macht. Und ich erinnre mich auch mit Freude an meine Kindheit. Ich durfte sehr viel. Also der Videorekorder war damals teuer, ich durfte aber daran herumspielen und die Knöpfe drücken. Wird schon irgendwie gut gehen. Man hat mir gesagt: Probiere es doch einfach mal. Ich durfte extrem viel. Meine Eltern hatten keine Angst, dass ich etwas kaputt mache. Gut, wenn ich etwas kaputt gemacht habe, dann bin ich halt mal ausgeschimpft worden, aber ich hatte dann eine eins-zu-eins-Reaktion. Ich bin also einerseits sehr behütet aufgewachsen, weil ich immer wusste, ich kann mich auf meine Eltern verlassen, und das ist ja das Wichtige an einer Erziehung. Aber man hat mich auch meine Fehler machen lassen. Ich hatte sehr viele Freiräume, ich durfte mich ausprobieren. Das hat mich ein Stück weit auch zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Und ich habe den Eindruck, wir erziehen unsere Kinder heute eher zu einer Lebensuntüchtigkeit, was dann eben kumuliert in dem Thema: Ich entscheide nicht. Und das geht ja dann weiter mit Work-Life-Balance, mit dem Umgang mit Hierarchien, mit: Ich trage keine Konflikte mehr aus, ich muss mich überall wohlfühlen können. Also viele haben den Eindruck, das Arbeitsleben und das Familienleben müsste so harmonisch sein wie im Mutterleib. Die Nabelschnur ernährt mich, alle müssen sich um mich kümmern und ich bin der Mittelpunkt der Welt. Und wenn es mir nicht gut geht, dann darf das alles so nicht sein. Das ist schon extrem nervig und das ist natürlich ein Erziehungsversagen.

Müller: Ja, und das sehen wir überall, obwohl die Menschen oder die Leute ja gar nicht wissen, dass eben dieses „sich entscheiden lassen“, wie du es vorhin genannt hast, auch eine Entscheidung ist. Und zwar dafür, anderen Menschen sozusagen das Zepter in die Hand zu geben, um dann eventuell sagen zu können: Du bist schuld. Also ich habe das sehr schmerzhaft selbst erlebt mit dem Vater meiner Tochter, der leidenschaftlicher Skiläufer war. Der ist ja leider schon verstorben. Und er hat mich sozusagen, man kann jetzt nicht sagen gezwungen, aber doch massiv dazu überredet, an meinem ersten Tag auf Skiern nachmittags um 16:30 Uhr diesen einen Berg doch noch mit runterzufahren, weil ich das ja ganz sicher schaffen würde. Und dann habe ich mir gedacht: Okay, ich gebe jetzt auf, aber wenn mir was passiert, bist du es schuld. Und dann ist mir auch etwas passiert. Also, ich habe ein kaputtes Knie und du bist schuld. Was hilft mir das? Gar nichts. Aber ich habe daraus schmerzlich gelernt. Es ist meine Entscheidung. Es hilft mir nicht, jemand anderem die Schuld zu geben, sondern da muss ich mir an die eigene Nasenspitze fassen und sagen: Du musst für dich einstehen und darum kämpfen, hier zum Beispiel nicht mitzumachen bei diesem Gruppenzwang oder nicht mitzumachen, wenn dein Partner irgendetwas von dir verlangt, oder nicht mitzumachen bei einer Aktion, nicht mitzumachen bei einem Trend, sondern einfach zu sagen: Das halte ich für richtig, da bin ich jetzt der Mittelpunkt der Erde. Denn wenn ich nicht mehr bin, gibt es meinen Mittelpunkt der Erde auch nicht mehr. Das heißt, ich muss für mich einstehen. Und das ist eben ganz wichtig. Das ist etwas, was mich auch gelehrt hat, Entscheidungen zu treffen und zu diesen zu stehen.

Al-Omary: Definitiv. Entscheidungen zu treffen heißt immer auch, bei etwas mitzumachen oder nicht mitzumachen. Und vor allem heißt es, mit der Konsequenz zu leben. Und wir haben bei Fridays for Future erlebt, dass immer mehr Leute sagen: Oh, da ist der Gruppendruck so groß, wenn ich da nicht mitmache am Freitag, werde ich in der Schule gemobbt. Es ist aber eine bewusste Entscheidung zu sagen: Ich sehe das anders als ihr, ich bleibe jetzt hier sitzen. Und ich finde schon, dass wir unsere Kinder, und insgesamt die Gesellschaft, zu mehr Mut erziehen müssen, wirklich Entscheidungen zu treffen. Und dann bin ich schon bei dem Thema, eine Meinung bzw. Stellungnahme einzunehmen und für etwas einzustehen. Das haben wir nämlich in der Tat auch systematisch verlernt. Und das hat auch etwas mit Durchsetzungskraft zu tun. Ich bin in der Grundschule – ich weiß gar nicht mehr, was der Auslöser war, ist ja relativ lange her – mal verprügelt worden. Da ist die ganze Klasse auf mich losgegangen. Gut, ich war vielleicht immer auch ein Sonderling. Das bin ich ja heute auch noch, deswegen sitze ich ja auch hier. Also, es wird schon einen Grund gegeben haben. Jedenfalls ging die ganze Klasse auf mich los. Und ich kam dann nach Hause und war schon etwas ramponiert, um nicht zu sagen, grün und blau geschlagen. Da haben meine Eltern nicht gesagt: „Wir gehen morgen zum Lehrer und da machen wir mal den Lehrer rund wegen verletzter Aufsichtspflicht.“ Sondern meine Eltern haben gesagt: „Pass mal auf, mein Junge, wenn du geschlagen wirst, dann versuche doch, nicht allen 20 hinterherzurennen. Nimm dir einen vor, am besten den Rädelsführer. Den prügelst du in Grund und Boden und dann hören die anderen 19 auch auf.“ Am nächsten Morgen ging das gleiche Spiel wieder los, ich habe mir einen geschnappt, habe den grün und blau geschlagen, fortan war Ruhe. Man hat mich gelehrt, mich durchzusetzen und eben auch Mut zu haben und für mich einzustehen. Und die Aussage war auch ganz klar: Ja, du wirst Schläge einstecken, ja, du wirst wieder ramponiert sein, aber du wirst danach eine andere Form von Respekt haben. Und das war für mich eine ganz wichtige Lektion, zu sagen: Setz dich gefälligst durch, halt nicht die andere Wange hin, werde nicht zum Opfer. Stehe zu deinen Entscheidungen, suche dir in dem Fall einen aus, den du grün und blau schlägst. Übertragen auf Unternehmen heißt das: Triff eine Entscheidung und dann wird die eben auch konsequent durchgezogen, manchmal eben auch mit dem Zusatz „koste es was es wolle“. Das hat mich gestählt und ich bin für diesen Erziehungstipp ähnlich dankbar wie deine Tochter bei dem Thema: Du musst jetzt mit der Angst leben, du hast dich entschieden, da mitzumachen.

Müller: Taktische Kriegsführung, Exempel statuieren. Also da tauchen ganz, ganz viele Bilder bei mir auf. Ich bin gespannt, was wir hier für Kommentare bekommen unter dieser Podcast-Folge.

Al-Omary: Ja, als Erziehungsratgeber wird das Ding nicht eingehen.

Müller: (lacht) Wer weiß, wer weiß … Also, ich habe breite Schultern und ich weiß, dass, wenn ich so etwas sage, mir sehr viele Eltern auch sagen: Das ist ja wunderbar, dass du das aussprichst. Ich hätte mich nicht getraut, das auszusprechen. Aber im Geheimen denke ich auch so wie du. Wir sind ja gezwungen oder wir werden gezwungen, hier die Guten zu sein, also immer gut und gutmütig, bloß keine Streitkultur zu pflegen, sich bloß nicht durchsetzen wie du. Also, ich höre da schon wieder ganz viele Stimmen, auch Gegenstimmen, in meinem Kopf. Ich stimme dir auch zu, dass man sich durchsetzen sollte gegenüber einer Gruppe, die beispielsweise schlägt, die aufwiegelt, und dort eben seinen Mann zu stehen. Wobei ja dieses Wort „Mann“, mit zwei N geschrieben, auf das Wort „man“ zurückzuführen ist, was ja wiederum den Wortstamm „Mensch“ hat. Wir haben bestimmt auch sehr viele Frauen hier als Zuhörer in dem Podcast und wenn ich jetzt sage „seinen Mann stehen“, meine ich damit eigentlich, seinen Menschen zu stehen.

Al-Omary: Überhaupt für etwas zu stehen. Wir haben unsere Werte, wir haben unsere Kultur, wir haben eine Erziehung genossen. Und es hat auch Sinn, dafür zu streiten, weil im Konflikt ja vieles besser wird. Konflikte sind ja nicht per se böse und Anpassungsfähigkeit ist eben nicht per se gut, sondern im Konflikt, in einer Dialektik, in einer Auseinandersetzung entsteht ja auch extrem viel Positives. Viele meiner heutigen Geschäftspartner sind auch Menschen, mit denen ich mich schon sehr, sehr hart auseinandergesetzt habe. Und auch viele Freundschaften, die entstanden sind, sind aus einer Kontroverse entstanden, weil man sich hat zusammenraufen müssen. Dabei hat man sich kennengelernt, man hat sich verstehen gelernt, man hat gelernt, durch die Brille des anderen zu schauen. Das sorgt dann auch für ein anderes Commitment. Also ich finde Konflikte nicht nur extrem reinigend für eine Gesellschaft, sondern auch extrem weiterbringend und wertvoll. Aber genau das wird uns eben abtrainiert. Die Frage ist jetzt: Wie schlagen wir jetzt wieder den Bogen zu den Entscheidungen? Da würde ich gerne einen Ansatz nochmal aufnehmen, den wir am Anfang hatten. Wir neigen dazu, aus dem Wunsch heraus, keine Fehler zu machen, aus dem Wunsch nach Anpassungsfähigkeit, nach Commitment, nach Teamfähigkeit, nach Fitting, Entscheidungen eben auf andere zu delegieren. Und ich bin immer überrascht, wenn ich amerikanische Filme sehe, oder auch deutsche, in denen der General zu seinem Leutnant sagt: „Wir gehen rechts herum, auf meine Verantwortung.“ Da frage ich mich immer: Wenn die wirklich vor dem Kriegsgericht stünden, dann würde ja die Hierarchie eine Rolle spielen. Also der Spruch „Ich übernehme die Verantwortung“ ist ja eigentlich nur ein Placebo, denn am Ende muss irgendeiner für diese Entscheidung geradestehen. Das wird leider irgendwie unterschätzt. Jeder sieht nur zu: Hoffentlich bin ich das nicht. Hoffentlich lande ich nicht vor dem Kriegsgericht. Hoffentlich muss ich mich nicht rechtfertigen. Was ja zu einer maximalen Distanz zur eigenen Tätigkeit führt, sowohl im Privatleben als auch im Unternehmen. Also ich finde, nicht zu entscheiden heißt auch, sich zu entfremden von der eigenen Tätigkeit. Das halte ich für ein großes Dilemma. Wenn ich nichts mehr entscheiden kann, für nichts mehr verantwortlich bin, dann bin ich doch am Ende des Tages irgendwie überflüssig oder nur noch ausführend. Dann bin ich zumindest nicht wichtig. Aber der Wunsch nach Wichtigkeit, der treibt uns Menschen doch an. Diesen Wunsch nach Wichtigkeit sehe ich doch auch, wenn ich von Helikoptereltern rede: Du bist mein Kind, ich kümmere mich um dich, ich behüte dich, ich beschütze dich, ich ziehe dich groß. Dann ist dieses „Nicht-Entscheiden“ eigentlich das krasse Gegenteil von dem, was uns beigebracht worden ist. Das halte ich für einen ziemlich harten Widerspruch.

Müller: Ja, das sehe ich auch so. Das ist eine falsche Wichtigkeit, die da durch dieses Überbehüten entsteht. Das Kind fühlt sich zwar wichtig, aber eben nicht, indem es sich selbst spiegelt, sondern indem es die Wichtigkeit von den Eltern zugetragen bekommt, nicht durch die eigene Selbstreflexion und nicht durch Reflexion des weiteren Umfelds. Das schafft natürlich auch sehr viele narzisstische Störungen, mit denen wir ja immer mehr konfrontiert werden.

Al-Omary: Da mag ja was dran sein: Das Kind wird wichtig gemacht durch die Aufmerksamkeit seiner Eltern, hat aber dadurch nicht gelernt, sich selbst wichtig zu nehmen und Selbstvertrauen zu haben, und kann deswegen mit dieser Entkopplung und Entfremdung im späteren Leben eigene mangelnde Entscheidungen dann hinnehmen. Ein ganz interessanter Aspekt, den habe ich so noch nie gesehen. Ein ganz interessanter Impuls. Wer gibt uns denn eigentlich die Wichtigkeit oder, in Bezug auf Entscheidungen, nennen wir es mal Relevanz? Wenn ich nicht gelernt habe, meine eigene Relevanz in mir selber zu finden und auf Basis meiner eigenen Selbstreflexion und Relevanz dann Entscheidungen zu treffen, werde ich zu dieser Amöbe, die ich am Anfang beschrieben habe.

Müller: Genau, und dann geht man in die Politik, denn da findet man dann die Wichtigkeit. (lacht)

Al-Omary: Naja, du findest eher eine Form der Anerkennung und ein gewisses Suchtpotenzial, weil du eine vermeintliche Macht hast.

Müller: So ist es.

Al-Omary: Als jemand, der das 20 Jahre gemacht hat, bestreite ich, dass diese Macht objektiv ist, und ich bestreite auch, dass Politik, zumindest der Großteil der Politiker, selbstbestimmt entscheidet, sondern auch da sind Kollektive, Fraktionen, Parteien, Gliederungen, Ausschüsse relevant. Also bitte die Politik nicht glorifizieren, das sind auch nur Menschen.

Müller: Das war keine Glorifizierung, das war eine Kritik.

Al-Omary: Und auch die würde ich zurückweisen, denn es gibt ja die Aussage: Politik ist ein Querschnitt der Gesellschaft und soll auch ein Querschnitt der Bevölkerung sein. Das finde ich persönlich ganz schrecklich, weil ich lieber von einer Elite regiert werden würde als vom kollektiven Mittelmaß. Da Politik aber nun mal der Querschnitt der Bevölkerung sein soll, ist sie nicht besser oder schlechter als die Gesamtgesellschaft. Jedes Volk hat die Politiker, die es verdient.

Müller: So ist es. Es hat ja schließlich die Entscheidung getroffen, diese oder jene Partei zu wählen oder eben nicht zu wählen. Da sind wir dann wieder bei den Konsequenzen. Aber die können wir unmöglich überblicken, weil eben auch sehr viel vor der Wahl gelogen wird, um Stimmen zu bekommen.

Al-Omary: Auch da gilt ja, dass viele sich entscheiden, sich nicht zu entscheiden. Ich finde auch das Thema Nichtwähler durchaus relevant und auch erheblich. Das ist auch eine bewusste Entscheidung. Ich finde es völlig legitim zu sagen: Ich fühle mich von keiner Partei vertreten und ich entscheide mich bewusst nicht, was zwangsläufig dazu führt, dass die Sitzverteilung durch meine Entscheidung analog derer besetzt wird, die sich eben entschieden haben. Also, meine Nichtwahl bildet exakt das Ergebnis ab im Parlament der Summe aller, die gewählt haben. Und damit bin ich natürlich auch wiederum irgendwo Querschnitt, aber ich habe eine Entscheidung getroffen. Und auch das ist legitim, den Mut zu haben, sich eben mal nicht auf eine Seite zu stellen. Kann ja Sinn haben. Aber auch das hat Konsequenzen, in Form von Mobbing, in Form von Kritik. Also, diese Schelte: Du hast nicht gewählt, du nimmst unsere Demokratie nicht ernst. Die gibt es ja auch. Wenn du rechts wählst, dann bekommst du die Nazikeule. Wenn du links wählst, dann bist du Kommunist. Wenn du FDP wählst, dann bist du ein bourgeoiser Ausbeuter. Und so kann man die Reihe fortsetzen. Also, jede Wahlentscheidung hat eine Konsequenz, wenn ich sie kommuniziere. Und auch das ist ein Aspekt von Entscheidungen. Mache ich sie transparent? Rede ich darüber, wie ich gewählt habe, wie ich die Entscheidung getroffen habe, oder behalte ich eine Entscheidung für mich? Das ist ja die nächste Ebene. Eine Entscheidung zu treffen, ist das Eine, zu einer Entscheidung zu stehen, ist das Zweite. Und zu einer Entscheidung öffentlich zu stehen, ist dann nochmal etwas anderes. Ich finde, wir müssen auch diese Ebenen unterscheiden. Ich würde mir Menschen wünschen, die entscheiden und zu diesen Entscheidungen auch stehen, sie gegen Anfeindungen und andere Meinungen verteidigen, um dann in einen Diskurs zu kommen, der am Ende alle weiterbringt.

Müller: Gut, da sind schon die Konsequenzen abzuwägen. Welche Konsequenzen trägst du durch deine Entscheidungen, wenn du dazu stehst? Es gibt eben viele, die Entscheidungen getroffen haben, um zu dem zu stehen, wovon sie wirklich überzeugt waren, die sind erschossen worden, sind umgebracht geworden, sind ins Gefängnis gekommen. Das ist nicht so einfach.

Al-Omary: Aber wir bewundern ja genau diese Menschen, die etwas entschieden haben. Graf Stauffenberg ist für seine Vaterlandsliebe und seinen Widerstand gegen das Naziregime erschossen worden und wird heute als Held verehrt. Gandhi hat es gewagt, gegen die herrschende Klasse anzutreten und Indien von den Engländern zu befreien, und hat dafür die Konsequenz getragen. Und so lässt sich die Reihe fortsetzten. Die Schwarzen-Bewegung in den USA, Nelson Mandela … Wir verehren ja diese Menschen, die für etwas eingestanden sind, sich für etwas entschieden und dann die Konsequenzen getragen haben. Das finden wir toll. Aber nicht jeder ist zum Helden geboren, leider.

Mülle: Meiner Meinung nach sind wir alle zum Helden geboren, jeder einzelne von uns. Das ist ja mein wunderbares, positives Menschenbild, welches du immer mit Fragezeichen ansiehst: Wie kann ich nur so positiv über Menschen denken? Wir sind alle zu Helden geboren. Definitiv, das ist weiterhin meine Überzeugung, obwohl ich diese vielen Feiglinge sehe und mich auch oft mit meiner eigenen Feigheit konfrontiert sehe, so ist es nicht. Aber ebendiese Helden, die bewundere ich. Denn das, was sie uns zeigen, das ist ja das, was wir im Prinzip möchten, das ist ja das, was sie im Prinzip wollen. Das ist doch fantastisch.

Al-Omary: Wir lieben das ja auch im Film und wir lieben das in der Geschichte und an historischen Figuren. Natürlich wollen wir alle Held sein und können uns damit auch identifizieren. Nach dem Strickmuster funktionieren ja auch Blockbuster und Bücher und Filme, weil wir natürlich die Identifikation damit suchen und uns auch gerne selber als Held fühlen. Im Alltag schaffen wir das aber leider oft nicht und ich würde mir in der Tat wünschen, dass wir öfter kleine Helden des Alltags sind. Es sind ja nicht immer die großen Entscheidungen gegen die Politik, gegen ein Regime, gegen Unterdrückung. Es sind die Entscheidungen: Wir machen den Deal, wir machen den Deal nicht. Wir stellen jemanden ein, wir stellen jemanden nicht ein. Wir machen eine Veranstaltung, wir machen keine Veranstaltung. Und jeder hat in der Tat die Kraft, ein Held zu sein, indem er seinen Alltag mutig meistert und Endscheidungen trifft, die sein Leben, seine Familie, sein Umfeld, sein Team entsprechend voranbringen. Die Realität ist das aber eben leider nicht, weil zur Entscheidung eben auch die Ermutigung gehört, und die bleibt an vielen Stellen aus.

Müller: Ja, die Ermutigung ist das Gegenteil von Angst. Und da sind wir wieder bei diesem Thema: Warum sind wir nicht der Held? Weil wir eben Angst vor den Konsequenzen haben. Das kann man aber trainieren. Und vielleicht könnten wir mal eine Podcast-Folge dazu machen: Wie trainiere ich denn eigentlich Mut, und wie trainiere ich mir die Angst ab? Das wäre doch mal ein ganz spannendes Thema. Was meinst du dazu?

Al-Omary: Ja, die Frage ist ja auch, was ist überhaupt Mut und wird Mut honoriert? Wie mutig darf ich überhaupt in einer Gesellschaft sein? Ich finde, das ist ein spannendes Thema. Ich habe in meinen politischen Zeiten mal ein Plakat gemacht, da stand drauf: Mut zur Meinung. Ich habe das auch plakatiert, entgegen der Linie meiner Partei. Das habe ich auch in der Politik immer so gehandhabt. Insofern ist das Thema Mut für mich ein ganz entscheidendes und dazu können wir gerne eine weitere Folge machen. Für diese Folge wäre dann jetzt die Schlussfolgerung die: Suche dir eine Selbstermächtigung, um zum Helden deines Umfeldes oder deines Alltags zu werden.

Müller: Vielleicht sogar erstmal nur der eigene Held, damit man sich nicht überfordert mit diesem „Held-Sein“. Wenn du Held deines Alltags und deines Umfelds werden möchtest, dann brauchst du ja wieder die Spiegelung von anderen Personen, um das im Außen wahrzunehmen. Erstmal sollte man bei sich selber beginnen und zum Beispiel die Fragen beantworten: Auf was bin ich eigentlich stolz? Was finde ich eigentlich toll an mir, was kann ich? Also weniger den Kritiker füttern, der ja in einem drin ist, diese kritische Stimme, sondern die positive Stimme, die sagt: Das ist super, irgendwie bin ich doch auf dem richtigen Weg.

Al-Omary: Wichtig ist auf jeden Fall, Mut zur Entscheidung zu haben und vielleicht auch mal gegen eine Hierarchie zu verstoßen, selbst Verantwortung zu übernehmen. Das bedingt in der Tat eine Selbstreflexion. Wenn ich weiß, wer ich bin, für was ich stehe und was ich will, dann habe ich auch einen Kompass, auf dessen Basis ich Entscheidungen treffen kann.

Müller: Und dann werden diese Entscheidungen sogar ganz einfach. Je klarer ich meine Werte sehe, je klarer meine Prinzipien sind, um so einfacher kann ich meine Entscheidungen treffen. Und damit verabschieden wir uns aus dieser heutigen Podcast-Folge und freuen uns auf das nächste Mal.

Danke fürs Zuhören. Wir sind heute schon am Ende unserer Folge. Im zweiwöchigen Rhythmus geht es weiter. Und wenn Sie die nächste Folge mit als erstes auf Ihrem Handy empfangen möchten, dann abonnieren Sie doch einfach diesen Podcast. Wie das funktioniert, zeigen wir Ihnen in den Shownotes. Ansonsten lädt Sie Annette Müller ganz herzlich in ihre Facebookgruppe ein, um über die Gedanken zu heute und zu den nächsten Folgen gerne mit ihr zu diskutieren. In diesem Sinne, bis zum nächsten Mal.