Episode #32 Menschlichkeit beginnt bei mir
Annette Müller: Herzlich willkommen beim Podcast Gedanken zur Menschlichkeit. Heute ist mein Gesprächspartner Harry Flint. Harry, herzlich willkommen! Ich freue mich sehr auf unser Gespräch. Unser Thema heute ist: Menschlichkeit beginnt bei mir. Und du bist Medienprofi und Familienmensch. Es heißt, Familienmenschen haben ja ganz viel Herz und Menschlichkeit. Ich würde gerne in dieses Gespräch mit der Frage einsteigen: Was ist überhaupt Menschlichkeit?
Harry Flint: Hallo, Annette. Schön, dass wir das zusammen machen können. Menschlichkeit, ja. Du hast gesagt, ich wäre Medienprofi. Als Mensch bin ich Medienprofi. Ich bin eigentlich als Familienmensch zum Medienprofi geworden. Und dadurch habe ich die Menschlichkeit entdeckt. Wie findest du denn das?
Annette Müller: Ich frage mich noch immer: Was ist Menschlichkeit?
Harry Flint: Ich glaube, das ist die Gabe, miteinander Umgang zu haben. Mensch zu sein bedeutet ja biologisch etwas und psychologisch wahrscheinlich auch. Und ich interpretiere es mir ganz einfach: Sei in der Lage, den Umgang mit anderen zu ertragen oder zu gestalten.
Annette Müller: Wenn ich jetzt in Familien schaue: Da haben wir ja alle irgendwie eine ganz individuelle Vorstellung von unserer Menschlichkeit. Jemand, der mit jemandem anderen ungut umgeht, hält sich vielleicht auch als menschlich. Weil er dem anderen durch sein ungutes Umgehen vielleicht auch irgendetwas Gutes tut.
Harry Flint: Das ist ein guter Ansatz, so zu denken. Menschlichkeit hat auch, glaube ich, nicht immer eine klare Regel. Menschlichkeit ist interpretierbar. Jeder von uns versteht unter Menschlichkeit auch etwas anderes. Allgemein, würde ich versuchen zu sagen, ist jemand, der als menschlich bezeichnet wird, jemand, der einfühlsam ist. Der den anderen im Blick hat, der das Miteinander stark bewertet, und der nicht nur sich sieht. Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit liegen für mich ganz nah beieinander.
Annette Müller: Der Titel unseres Podcasts ist: Menschlichkeit beginnt bei mir. Also, ich möchte mal ein bisschen was von mir erzählen, was ich an mir menschlich finde. Ich empfinde Menschlichkeit bei mir Authentizität. Also, wenn ich zum Beispiel Schwäche zeige und nicht immer stark bin, empfinde ich mich als sehr menschlich. Wenn ich anderen Menschen begegne und mich in denen reflektiert sehe und reagiere und zwar immer authentisch, empfinde ich mich als menschlich. Unmenschlich empfinde ich mich, wenn ich mich in irgendeiner Art und Weise schützen oder zurückziehen muss. Oder Härte zeigen muss, die ich eigentlich gar nicht zeigen will. Ich empfinde mich zum Beispiel als unmenschlich, wenn ich Fleisch esse, was ich sehr gerne tue. Aber dann habe ich ein schlechtes Gewissen der Tiere wegen, die sterben.
Harry Flint: Ja. Interessanter Ansatz, dass man so Menschlichkeit definiert. Ich bin jemand, der gern nach vorne geht, der gerne Dinge gestaltet. Der proaktiv ist und dabei vielleicht auch manchmal menschliche Züge zurückstellt, wenn man die menschlichen Züge auf die Achtung der anderen reduziert. Und dann entdecke ich immer wieder, dass ich mich zwischendurch dabei bremsen muss, nach vorne zu gehen, um die Menschen, die um mich herum sind, auch wieder zu erreichen und mitzunehmen. Ist insofern komisch, als dass ich auch als Medienmensch die Dinge medial tue, um andere zu erreichen. Und das ist auch das Interessante. Deswegen freue ich mich, dass du mich zu dem Podcast eingeladen hast. Weil ich glaube: Das ist das stetige Streben nach, nicht Gutmenschsein, sondern nach dem Menschsein. Wir haben alle die Verantwortung, uns zu reflektieren. Und das tun wir allein schon, dass wir diesen Podcast aufzeichnen. Was tust du eigentlich, was tue ich eigentlich, um anderen Menschen ein Signal des Für-sie-da-seins zu zeigen? Und da weiß ich von ein, zwei, drei, zehn Signalen, die ich, glaube ich, sende. Das macht mich zufrieden.
Annette Müller: Ich habe jetzt das Wort Gutmensch gehört und möchte wirklich sofort einhaken. Das Wort Gutmensch ist zu einem Schimpfwort mutiert. Was ist ein Gutmensch? Und warum kritisieren andere eben diese in Anführungsstrichen Gutmenschen? Und was ist das genau? Was verstehen wir darunter?
Harry Flint: In meinem Sprachraum gibt es das Wort eigentlich gar nicht. Wundert mich total, dass ich das gerade überhaupt benutzt habe. Aber ich glaube, ich habe beschrieben, wie es diese Gutmenschen gäbe. Ich selber benutze das Wort in der Beschreibung bei Charakterisierung von Gegenübern eigentlich gar nicht. Ich finde es auch nicht verwerflich. Ich finde es auch nicht problematisch, dass es gute oder Gutmenschen gibt. Gutmenschen sind Menschen, die sich Gedanken um andere machen. Das ist ja quasi die Steigerung von dem, was ich unter Menschlichkeit, Mitmenschlichkeit versuche, für mich zu definieren. Und damit kann ich denen nicht absprechen, dass sie einfach das Gute im Sinn haben. Was wahrscheinlich mit den Gutmenschen, und deswegen wurde es vielleicht zum gesellschaftlichen Schimpfwort, wenn du sagst, wurde, ist: Dass man die Leute, die immer Eintracht suchen, Leute, die Gemeinwohl suchen, Leute, die die Summe aller Individualmeinungen versuchen gemeinschaftlich zu sehen, als zu konsensorientiert sieht. Auch in einigen deiner Podcastfolgen, nehme ich das ja immer total interessiert zur Kenntnis, geht es ja oft auch auf diesen Diskurs. Und dass man eben Meinung auch mal bekennen muss. Und dass man auch mal nicht nur im Einklang leben muss, um auch mal neue Lebensformen, neue Denkformen zu erachten. Und für mich geht beides, Diskurs und Menschlichkeit, trotzdem im Einklang. Denn ich will auch ein Mensch sein, der nicht immer nur nach dem Gemeinwohl spricht oder denkt. Ich würde gern jemand sein, der aber mit meinen Ideen, mit meinem Vorangehen anderen Menschen, es muss nicht vorbildlich sein, aber Wege aufzeigt, die man vielleicht mitgehen könnte. So versuche ich zu sein. Und das ist auch menschlich: dass ich mich anbiete als eine Person, mit der man irgendwo hingehen kann. So empfinde ich Menschlichsein. Als Gutmensch dann, wenn man das so möchte.
Annette Müller: Also, die Verkörperung eines Gutmenschen möchte ich mal beschreiben. Für mich ist ein Gutmensch jemand, der erträgt, dass jemand anders ihm auf dem Fuß steht und dort nicht runtergeht. Und zwar so schwer zutritt, dass es weh tut, dieser Gutmensch aber dennoch sagt: „Ich habe dich lieb. Und du stehst auf meinem Fuß, und das tut mir weh. Und ich verstehe dich. Und deshalb kann ich das ertragen. Weil: Würde ich dich jetzt dort herunterschieben mit Gewalt, wäre ich ja kein Gutmensch mehr.“
Harry Flint: Ja. Wer mir auf den Fuß tritt, das würde ich ihm dann schon sagen. Ja, und wenn ich ihn runterschiebe und er bleibt trotzdem stehen und erträgt das für mich: Warum soll man das nicht zulassen? Die nächsten Gutmenschen, die wir alle sehen, sind wohl unsere direkten Partner. Das scheinen die Ehepartner oder die LebenspartnerInnen oder Partnerschaften zu sein.
Annette Müller: Die dich ertragen? Oder wie habe ich das jetzt zu verstehen?
Harry Flint: Ja, provokant ein Stück weit schon. Jede Lebensgemeinschaft ist auch ein Stück weit gelebter Kompromiss aus allem. Wer mir erzählt, dass eine Partnerschaft, Ehe oder lebens-, eheähnliche Partnerschaft auf maximaler, totaler, ewiger Eintracht fußt, und dass die Ehe, diese christliche Ehe, das einzige Lebensmodell sein soll: Das ist ja ein Traumtanz. Das wäre ja zu schön, um wahr zu sein. Nein. Es gibt da natürlich Dinge, die man an dem anderen auch mal nicht gut findet und wo man Bereitschaft zeigt, Gutmensch zu sein im Interesse des anderen. Weil man eigentlich mit seinem Gutmenschentum, jetzt bleiben wir doch bei dem Wort, hilft, dass die Beziehung überhaupt möglich ist. Man toleriert die. Ich finde das Wort Toleranzmensch viel besser. Das wird nur nicht benutzt. Der Toleranzmensch ist der, der auch mal Dinge zulässt, die nicht in seinem Kern so sind.
Annette Müller: Sind wir im Allgemeinen zu tolerant oder zu wenig tolerant?
Harry Flint: Beides. Die Verniedlichung von Standpunktbeziehung mag ich nicht. Ich mag Standpunkte. Ich mag für eine Meinung, ich mag für einen Standpunkt eintreten, in der privaten Welt, in der beruflichen Welt, in der gesellschaftlichen Umgebung. Das wird verniedlicht. Das gibt kaum noch Standpunkte. Und durch diese mangelnden Standpunkte gibt es kaum noch Orientierungspunkte, an denen man sich ausrichten kann. So wird verharmlost, was eigentlich Meinung sein kann. Oder? Und wenn ich nicht der bin, der diese Meinung äußert, ohne sie zu verhärten, sondern sie einfach gut argumentiert in den Raum stellt oder lebt, dann haben andere Menschen die Möglichkeit, freie Gesellschaft, sich diesem Bild anzuschließen. Vielleicht diesem Wert anzuschließen, den ich damit repräsentiere. Oder mich laufen zu lassen, weil es nicht ihr Wert ist. Das muss doch fair sein. Das muss doch erlaubt sein. Wie auf dem Sportplatz, oder? Ich habe den Ball. Ich spiele ihn so und so in die und die Richtung. Also laufe ich mit dem Ball Richtung, wenn wir beim Fußball bleiben, gegnerisches Tor. Und wenn die anderen meinen, ich bin ein guter Ball- oder Spielführer, dann versuchen die mit mir gemeinsam, den Ball in das gegnerische Tor zu tragen. So könnte Gesellschaft auch interpretiert sein. Wenn sie stören, wenn sie hinten stehen bleiben, weil sie nur an Abwehr denken, dann bin ich vorne alleine und kriege den Ball nicht gepunktet. Und dann kommt die Angriffswelle zurück. Und dann stehen sie hinten in der Abwehr alleine. Weil, ich ja nach vorne bin. Also muss es eigentlich ein Teamgedanke sein. Deswegen beginnt für mich Menschlichkeit bei mir. Ich muss als Spielführer auf dem Platz mit meinen Teamplayern, mit meinen Mannschaftsmitgliedern gemeinsames Interesse haben, diesen Ball ins Tor zu schießen.
Annette Müller: Menschlichkeit. Was ist dann aber das Training, ein hartes Training? Ist das dann noch menschlich, oder ist das unmenschlich? Um ein Ziel zu erreichen, gemeinsam? Ich habe kürzlich eine junge Dame getroffen, die bei der Bodenturnolympiade dabei gewesen ist. Die hat mit sechs Jahren angefangen, hart zu trainieren. Die war im Team. Die war wunderbar. Und durch das harte Training, durch die Überstrapazierung des Körpers, hat sie tatsächlich schwere Krankheiten davongetragen und ist chronische Schmerzpatientin. Wo beginnt die Menschlichkeit? Wo hört da die Menschlichkeit auf, wenn wir jetzt an den Sport denken, an Mannschaftssport, an Training? Und du bist ein Leader. Wie weit treibst du die Menschen, damit sie gewinnen? Wo ist da die Grenze?
Harry Flint: Ich finde deine Vergleiche und Fragestellungen echt interessant. Die regen mich zum Nachdenken an. Manchmal brauche ich eine Sekunde auf dreieinhalb, um mich vorzubereiten, das gut zu beantworten. Es ist mal eine Anerkennung an die Art, wie du das Gespräch so mit mir führst.
Annette Müller: Ich würde mich freuen, wenn unsere Hörer auch über diese Gedanken nachsinnen, sozusagen.
Harry Flint: Lass mich es mal so versuchen: Also, ich komme aus dem Sport so. Ich bin Tennisspieler gewesen. Ganz als Kind war ich Fußballer. Dann war ich Tennisspieler. Das durfte ich ganz okay machen bis ziemlich erfolgreich. Und dann war ich Baseballspieler. Und als Baseballer hatte ich auch Glück, das ganz gut machen zu können, und hatte daraufhin mein Unternehmen auch gegründet, als Veranstalter von Camps. Und da war ich immer ein Driver. Da habe ich immer gesagt: „He, Kids, let us go! Let us go, not fear, then do some sport!” Ich hatte nie diesen Aspekt, den die amerikanischen Trainer. Baseball ist eine uramerikanische Sportart. Da geht es immer um: „Winning is everything.“ Das war nie mein Antrieb. Also, Finalist war nicht gut genug. Es musste gewonnen werden. Das ist so der Leitgedanke des amerikanischen Sports. Den habe ich in mir so nicht getragen. Ich habe immer gesagt: „Get up to the best you can be!” Also: “Sei immer so gut, wie du irgendwie kannst, und sei nie der Zweifler deiner eigenen Fertigkeit! Du wirst den Ball treffen.“ In Baseball trifft man den geworfenen Ball. Wenn du ihn treffen willst. Du hast die Einstellung zu haben: „Triff!“ Und du fragst mich heute, ob das noch menschlich ist, wenn ich ihn zu seinen Leistungen anrege? Weil, das tue ich ja als Trainer. Als Mitspieler tue ich das auch. Und ich finde: Ja, total. Weil, ich mich kümmere. Ich kümmere mich unmittelbar um einen Mitmenschen, dass der ein Leistungspotential in sich erkennt oder auslebt, das er vielleicht alleine gar nicht ausleben würde, wollte oder könnte. Und damit ist das urmenschlich. Das ist total mitmenschlich, dass ich ihm dabei helfe, etwas zu entdecken, was er ohne mich als Mannschaftsmitspieler oder Coach gar nicht entdeckt hätte. Und wenn er das dann zurückgibt, indem er das dann annimmt und beim. Du sprichst vom harten Training. Das harte Training erwidert, wenn wir hartes Training brauchen, dann ist das urmenschlich von ihm, dass er mir helfen möchte, Erfolg zu haben. Wenn es im Sport um Erfolg geht, ist das auch menschlich, weil: Man macht für gewöhnlich Liga oder-, Leistungssport war es bei mir, um gute Resultate zu haben. Man möchte eigentlich gewinnen. Das ist erst mal die DNA vom Leistungssport. Vom Mannschaftssport möchte man auch lieber gewinnen als verlieren. Es gibt aber auch Sportarten, da muss man gar nicht zwingend gewinnen. Da macht man den nur zum Zeitvertreib, weil man gerne diese Sportart macht. Ich denke an Kitesurfen. Ich denke an Boule. Da muss ich nicht gewinnen. Da geht es mir um dieses freizeitliche Miteinander. Weil, da ist Menschlichkeit gar nicht von Leistung geprägt, sondern von dem schönen Zeitvertreib.
Annette Müller: Menschlichkeit im Teamsport kann ja auch bedeuten, dass der einzelne Spieler über sich hinauswächst in diesen Teamgeist hinein und in diesem Teamgeist so etwas Magisches entstehen kann, wo man sich nonverbal unterhält. Das heißt, nonverbal verbindet und dann plötzlich wie ein Vogelschwarm oder eine Fischschule agiert. Das ist ja schon etwas Übermenschliches. Das ist ja schon Bewusstseinsevolution. Wenn dann aber ein Teamplayer sozusagen an seine Grenzen kommt und vielleicht einen Unfall erleidet, oder in Gefahr gerät, einen Unfall zu haben, weil man ihn überfordert, dann schwächt das ja schon wieder das ganze Team. Wo ist da Menschlichkeit?
Harry Flint: Menschlichkeit hat eigentlich ein Stück weit versagt, wenn es überhaupt dazu kommt. Oder? Wenn ich den Teamgedanken lebe, und wenn ich in meiner Familie, in meiner Firma oder beim Sport, da sind wir gerade als Beispiel, Team sein will, dann muss ich mitbekommen, wenn da jemand nicht mitkommt. Und wenn der sich über sein Leistungspotential anstrengt und herausfordert, und wenn der früher Zerrungen kriegt oder Muskelfaserrisse kriegt, weil seine Muskulatur das nicht mitmacht, dann sagen gemeinhin die Leute: „Ja, der muss besser essen. Der muss sich besser dehnen.“ Es kann aber auch sein, dass er eine Stresssituation hat. Man nennt das ja den Ermüdungsbruch, ganz oft im Leistungssport. Und der kommt ganz, ganz selten. Aber wenn er kommt, kommt der so heftig, dass du teilweise an dem Ermüdungsbruch länger laborierst als an der Fraktur, also an dem durchgetrennten oder gebrochenen Knochen. Und es ist total wichtig, darauf Acht zu geben im Team. Du musst einfach spüren: Wie geht es den anderen Teammitgliedern? Mir fällt dabei ein Beispiel auch aus dem Fußball ein. Ich habe jetzt gerade seinen Namen nicht mehr zur Hand. Aber es gab mal einen Fußballnationalspieler, der hatte immer schon höchst depressive Phasen. Der war eines der größten Fußballtalente. Vor 15, 18 Jahren war der Spieler bei Bayern München. Vielleicht fällt einem der Podcastzuschauer sein Name ein. Er war ein echt tolles Talent. Ich glaube, zur Ära Lothar Matthäus war er einer seiner legitimen Nachfolger. Und das war ein Mittelfeldspieler. Es war ein Spielgestalter. Der war stark auf dem Feld. Aber offenkundig nach dem Feld brach es ihm immer wieder durch, dieses Leben. Er war depressiv. Der war am Ende so schwer depressiv, dass er seine Karriere beenden musste. Der konnte unter diesem medialen Druck, dieser Performance, dieser großen Fußballbundesligablase, konnte der gar nicht existieren. Und es gibt auch viele Menschen, die können ihre eigene Neigung im Spitzensport zum Beispiel gar nicht ausleben. Ich denke jetzt an das Thema auch Sexualität. Gerade im Männersport Fußball gibt es viele Menschen, die sich nicht trauen, zu ihrer sexuellen Ausrichtung zu stehen. Weil es einfach sich nicht schickt, das zu tun. Das finde ich einfach unmenschlich. Die sollen ihre Ausprägung leben können. Auch das wäre nur menschlich, würde der Verband, würden die Teams, würden die Manager das zulassen. Und dass es gar keine Furcht gäbe, welcher Couleur auch immer man ist, stehen zu können. Es gab einen Leichtathleten, da wurde ewig und drei Tage gemutmaßt: Ist das ein Mann oder eine Frau? So ein Vierhundertmeterläufer aus, ich glaube, karibischen Ursprungs. Eine Art neutrosexueller Mensch, wo man nicht wusste: Was ist denn das? Ja, und? So what?
Annette Müller: Ja. Das erinnert mich jetzt an ein Thema, was wir auch mal betrachten könnten. Und zwar: Wie sieht das aus mit Transgender im Damensport? Also, da gibt es ja auch große Diskussionen. Darf das zugelassen werden oder nicht? Aber das ist jetzt wieder ganz was anderes. Ich würde gerne diesen Teamgeist jetzt auf unsere Gesellschaft übertragen. Und zwar, wenn wir sagen: „Menschlichkeit beginnt bei mir“, das heißt: Ich müsste doch dann, wenn ich in der Gesellschaft einen Fortschritt und ein gewisses Ziel erreichen möchte… Was immer das ist. Ein schönes Ziel wäre, dass alle Menschen eben glücklich sind und sich entfalten könnten. Muss ich mich mehr oder weniger auch um meine eigene Menschlichkeit kümmern, damit ich diese ins Team einbringen kann? Wenn wir zu dem Depressiven zurückkehren oder zu dem, der überfordert ist, müsste der sagen: „Halt, stopp! Hier ist meine Grenze. Ich muss mich um mich kümmern, um gut funktionieren zu können und um mich selbst eben nicht zu torpedieren“?
Harry Flint: Sowas von klar. Und wie fängst du bei dir selbst an mit der Menschlichkeit? Es ist vielleicht leicht gesagt, noch schwerer getan, dass ich mich, glaube ich, besser beobachten sollte. Ich versuche das, dass ich immer wieder mal an mir runterschaue und überlege: „Wie hast du denn das jetzt gemacht? War das von Egozentrik, war das von Gemeinwohl, war das von Dingen getrieben, die für alle gut waren? Oder war das nur für mich gut? Oder habe ich etwas gemacht?“ Viele machen vieles für das Gemeinwohl und werden zur sprichwörtlichen Minna. Oder? Es ist so ein altgelebtes Begriffchen. Du wirst zur Minna, weil du immer für alle alles tust. Du denkst nie an dich selbst. Das war immer früher das Klischee dieser hyperumsorgenden Mutter. Dann, nach dieser Minna, kam irgendwann in der Neuzeit diese SUV, diese Helikoptermutter. Die fliegt um ihr Kind herum. Die fährt Kevin Justin zum Kindergarten bis vor die Tür und fährt noch einen von Papa als Dienstwagen deklarierten SUV mit 250 PS. Und Vater fährt mit der U-Bahn in die Arbeit, weil er noch einen zweiten Dienstwagen hat. Die machen alles dafür, den Wert Kind zur Familie zu bringen, glauben sie, verlieren und vergessen aber sich als Frauen wahrscheinlich. Du sprachst auch auf das Transgenderthema an. Die verlieren sich eigentlich ein Stück weit, sind dann nach der Mutterphase ganz oft mit 25 bis 40 Lebensjahren in so einer Familienhülle, weil sie da alles organisieren zu Hause. Der Mann durfte immer schon Karriere machen. Und dann kommen sie irgendwann mit 40 auf die Idee: „Wo blieb denn ich? Was ist denn mit meinem Leben? Was war ich eigentlich vor dem Kinderkriegen? Was war ich denn vor der Karriere meines Mannes?“ Das rückt sich gerade ein bisschen zurecht. Weil: Durch diese steigenden Kosten in unserem Land mussten viel mehr Mütter viel früher wieder arbeiten gehen als das noch vor zehn, fünfzehn Jahren war. Da war das fast Usus, dass die Frau noch zu Hause blieb. Oder? Ist es nicht so? Und heute sind ganz oft diese Frauen auch wieder im Job und wollen eigentlich diese Perfektionsmutter sein. Sie wollen das Kind organisieren. Sie wollen die Karriere nicht verlieren. Sie wollen dem Mann entsprechen. Sie wollen dabei SUV fahren. Nein, Spaß. Aber sie wollen in allen Bereichen funktional sein. Ich merke nur: Dabei verlieren die die Selbstreflexion, also ihre eigene Menschlichkeit. Und dann wohl den Frauen, die Ehepartner haben oder Ehepartnerinnen, muss man heute sagen, die ihnen dabei helfen, die wieder zurück zu entdecken!
Annette Müller: Also die richtigen Fragen stellen? Sich selbst infrage stellen.
Harry Flint: Runtergucken und sagen: „Was mache ich hier eigentlich gerade? Wo stehe ich eigentlich? Im Sumpf? Im Matsch? Auf einem Asphalt? Auf einem Schotter? Stehe ich fest? Bin ich geerdet? Stehe ich auf einem Zeh, auf einem Bein? Bin ich bodenständig?“ Und bodenständig muss ja nicht bieder sein. Sondern bodenständig heißt standfest. „Bin ich sattelfest in meiner Situation?“ Wenn ich mich derer sicher weiß, dieser Standfestigkeit, glaube ich, bist du auch gut vorbereitet auf Menschlichkeit. Weil, dann kümmerst du dich um andere Menschen. Du kümmerst dich um die Gefühle anderer, um die Sichtweisen anderer. Und das tut uns insgesamt, sehr viel mehr gut. Es täte uns sehr viel besser, würden wir öfters uns auch mal um andere kümmern.
Annette Müller: Das ist ein interessanter Gedanke. Also, ich möchte nochmal zusammenfassen: Sich selbst reflektieren, sich selbst infrage stellen und gleichzeitig trotzdem eventuell auch einen gewissen Egoismus leben. Und gleichzeitig aber auch nach anderen schauen. Also, das ist schon ein großer Spagat.
Harry Flint: Da muss der Mensch mal als Zehnkämpfer funktionieren. Du musst selbstbewusst genug sein, dass du dein Leben kennst. Dass du dich verstehst, dass du zu dir selber ein Selbstwertgefühl hast. Es wird in vielen Live Coachings von Selbstliebe gesprochen. Das ist so fremdartig, dass man sich selbst lieben soll. Ja, die dicke Person soll sich in dick auch lieben. Die dürre soll sich in dünn auch lieben. Der Muskulöse soll sich so lieben. Ja, gut. Viel mehr als Äußerlichkeit, geht es um die innere Liebe wahrscheinlich. Ich muss mich als Charakter kennen. Ich muss zu mir stehen. Ich muss das Gefühl haben: Ich bin in mir standfest, wie ich gerade meinte. Und damit kann ich auch menschlich sein. Weil ich mich dann verstehe. Und dann kann ich auf andere zugehen.
Annette Müller: Also, diese Selbstliebe ist ein wirklich wunderbares Thema. Und ich glaube mal, dass, wenn wir gesagt bekommen: „Du musst dich selbst lieben“, erst mal annehmen, dass das mit den Äußerlichkeiten gar nichts zu tun hat. Denn wenn jemand sich nicht liebt, dann kann er sich auch nicht lieben, je mehr er sich auch dazu zwingen will. Man kann niemanden lieben, weil man ihn lieben muss oder sollte, wenn man den nicht liebt. Das ist nicht möglich. Wer immer das versucht hat, wird scheitern. Und der wird wissen: „Ich bin gescheitert“.
Harry Flint: Ich habe da so ein Ding aus der Beziehung zu meiner Frau, die ich sehr liebe. Tatsächlich ist das so – wir haben da so einen Running Gag. Immer wenn mal was ist, was nicht so cool ist, weil man wieder mal auf eine Tretmine Charakterzug beim anderen gestoßen ist. Und glaubt es mir: Ich habe 100 Tretminen, auf die meine Frau stoßen kann, weil ich sowas von unperfekt bin. Und natürlich hat meine Frau auch ein, zwei nicht so starke Schwächen. Was meinte ich eigentlich gerade? Ich glaube, ihr versteht mich. Immer dann sage ich zu meiner Frau: „Das kann an meiner Liebe zu dir nichts ändern.“ Manchmal ist Liebe auch dazu da. Menschlichkeit und Liebe sind auch manchmal dazu da, bewusst auch in Phasen vorzudringen oder in Charakterzüge deiner Mitmenschen vorzudringen, die eben bewusst nicht stark sind. Sondern die auch von Schwäche geprägt sind. Dass da jemand neben dir ist, der dir sehr viel bedeutet. Der, genau wie du, eben nicht perfekt ist.
Annette Müller: Wobei ich ja jetzt wirklich sehr, sehr gerne mit dir streiten würde. Weil ich behaupte: Es ist viel einfacher, jemanden anderen zu lieben als sich selbst.
Harry Flint: Ja, lasse ich stehen. Ich würde nicht von Selbstliebe bei mir sprechen. Aber ich bin halt selbstbewusst, selbstreflektiert. Ich weiß, wo meine Standfestigkeit herkommt. Und die verteidige ich. Und in der Tat wünsche ich vielen Menschen, die das hier heute hören, dass die sich selber empfinden. Dass die sich selber erkennen, reflektieren, und dass die nicht zur Minna oder zur Helikopterperson werden. Sondern dass die viel mehr sich um sich erst mal kümmern. Weil sie mit sich im Reinen sind, dadurch anderen Menschen gerne etwas geben, was die anderen Menschen, wenn die dann auch gut gesattelt sind, auch gut erkennen können, wird das ein echt menschlicher Haufen. So eine Bunch.
Annette Müller: Also, können wir jetzt das Fazit aus unserem Gespräch ziehen, dass Menschlichkeit tatsächlich bei jedem einzelnen erst einmal beginnt? Und dass ein Fördern der Selbstliebe zu mehr Menschlichkeit führt?
Harry Flint: Ja. Dabei sind auch Zweifel zulässig. Der Lateiner sagt: „Errare humanum est. Irren ist menschlich.“ Man muss sich auch mal irren dürfen. Man muss auf die Suche gehen. Man darf auch Fehler machen. Wenn man nicht agil wird, wenn man nichts ausprobiert, findet man sich nicht. Ist dadurch nicht in sich gelagert. Und kann wahrscheinlich den Menschlichkeitsaspekt nicht so gut leben, um dann auch anzufangen, wieder andere lieben zu können.
Annette Müller: Also, ich liebe mich als erstes in meiner Unvollkommenheit mit allen meinen Fehlern. Und, also, ich persönlich habe aus meinen Fehlern schon so viel gelernt, dass ich kaum abwarten kann, die nächsten zu machen.
Harry Flint: Christian Bischoff sagt in seinen Coachings immer: „Ich bin nicht perfekt. Und das ist gut so.“ Das ist total glaubwürdig. Ich muss mir das nicht ständig sagen, weil ich weiß, dass ich sowas von unperfekt bin. Und das ist auch gut so.
Annette Müller: Wunderbar! Also, nicht perfekt sein ist menschlich.
Harry Flint: Sowas von!
Annette Müller: Und damit verabschieden wir uns heute und freuen uns auf das nächste Mal. Auf Wiederhören!
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